Glückskind (German Edition)
denn da?, fragt er sich. Aber dann stellt er vier Teller auf den Tisch, vier Gabeln, vier Gläser, wo war das noch, dass die Ahnen immer mit zu Tisch sitzen?, fragt er sich. Es müssen ja nicht die Ahnen sein. Die weggelaufene Ehefrau und die Kinder tun es doch auch. Mineralwasser hat Hans nicht, deshalb schenkt er ihnen allen Bier ein, er kann ja ein wenig Dinner For One spielen und sich besaufen. Aber nein, er hat gar keine Lust, seine Sinne zu benebeln, sie sind so klar wie lange nicht. Und nun sitzen sie auch schon am Tisch, seine Kinder und seine unsichtbare Frau, er weiß, sie ist da, auch wenn er sie nicht sehen kann. Ein jeder bekommt seine Portion. Dann essen sie zu Abend, Hans und seine Familie, und im Schlafzimmer schläft das Findelkind, eines mehr oder weniger, wo ist da der Unterschied, er liebt sie, alle.
Als Hans fertig ist, sitzt er noch eine Weile da, die Augen geschlossen, und genießt die Ruhe, die er spürt. Dann räumt er alles ab und spült. Am Ende des Tages sitzt er vor dem Fernseher mit einer Flasche Bier in der Hand und schaut sich einen Film an, keine Nachrichten, er hat keine Lust auf die Welt. Er kennt diesen Film von früher, mindestens drei Mal hat er ihn schon gesehen. Aber gute Filme sind wie gute Freunde, man heißt sie stets willkommen. Es geht um einen Mann, der das Leben und die Liebe leichtnimmt. Dieser Mann ist glücklich, obwohl die Menschen in seinem Land unterdrückt werden. Später verliert er seine Leichtigkeit und muss das Land verlassen. So ziemlich das Gegenteil von mir, denkt Hans hinterher. Er nimmt das Leben schwer, obwohl sein Land frei ist, jeder kann tun und lassen und sagen, was er will. Wie kommt es dann, denkt er, dass das Leben nicht leichter wird? Er zuckt mit den Schultern. Vielleicht braucht man ein schweres Leben, um ein Leben gehabt zu haben? Wer weiß das schon?
Jetzt ist er müde, die Werbepausen haben den Film auf mehr als drei Stunden gestreckt, bald wird Felizia wieder wach, müde erhebt Hans sich von seinem Stuhl und bereitet ihre Flasche vor. Dann geht er zu Bett und dieser Tag ist zu Ende.
In der Nacht weint Felizia. Hans wird wach und tröstet sie, aber sie ist gar nicht wach. Sie weint laut, mit geschlossenen Augen. Sie hat ein ganz unglückliches Gesicht, als wäre etwas Furchtbares geschehen. Hans versucht sie zu beruhigen, aber sie weint nur noch heftiger. Er erinnert sich an Hanna, die auch manchmal im Schlaf weinte. Karin sagte damals: »Das ist nicht weiter schlimm, als ich klein war, habe ich das auch gemacht.« Hans hält Felizia im Arm, wie Karin damals Hanna im Arm hielt, und wartet, bis sie sich wieder beruhigt. Es dauert fast eine Stunde, und in dieser Stunde fragt er sich zum ersten Mal, was die Nachbarn im vierten und im sechsten Stockwerk denken sollen, wenn sie wach werden und ein Baby hören. Das macht ihn ganz nervös, am liebsten würde er Felizia wecken, aber sie befindet sich an einem Ort, der zwischen Wachen und Schlafen liegt, er müsste ihr Gewalt antun, um sie von dort zu vertreiben, er müsste ihr eine Lampe ins Gesicht halten oder sie nass machen. Und dann wäre sie so erschrocken, dass sie trotzdem weinen würde. Er kann also nichts tun, nur dasitzen, sie halten und hoffen, dass alle anderen weiterschlafen. Hans fragt sich, was es dort gibt, wo Felizia jetzt ist. Er fragt sich, was es dort gab, wo Hanna sich manchmal befand. Als sie größer wurde, hörte es auf. Ist es ein Ort, an den nur Kinder gelangen? Hans beobachtet sein Kind beim Weinen. Felizia weint, wie man Tote beklagt, sie weint, wie man das Leiden anderer auf sich nimmt, sie weint wie ein Klageweib. Ach was, denkt Hans, das bildest du dir alles nur ein.
Als sie endlich aufhört, tut sie es zögerlich, sie verstummt und hebt wieder an und verstummt wieder. Und Hans hofft und bangt und hofft. Dann endlich ist sie still, ihr Atem beruhigt sich, sie lässt den Kopf zur Seite sinken und streckt sich aus. Hans legt sie auf das Bett. Er legt sich neben sie und schläft sofort ein.
Am nächsten Tag, einem Montag, ist es genau eine Woche her, dass Hans Felizia gefunden hat. Hans schaut aus dem Fenster. Das Wetter ist nicht besser geworden, es regnet. Felizia schläft noch, sie hat sich im Schlaf auf den Bauch gedreht, das ist neu. Ihr Gesicht hat sich verändert, findet er. Sie sieht zum ersten Mal aus wie ein kleines Mädchen, nicht mehr bloß wie ein Baby. Als Hans zum Badezimmer geht, entdeckt er einen Zettel, den jemand unter der Wohnungstür
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