Glückskind (German Edition)
sehen möchte, dann kann es sein, dass Sie den Sprechschein schon morgen am Amtsgericht abholen können.«
»Und wenn sie nicht will?«, fragt Hans.
Frau Tarsi zuckt mit den Achseln. »Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist.«
An diesem Tag wird Frau Tarsi den Brief einwerfen. Gleich neben dem Lotto-Toto-Geschäft von Herrn Wenzel steht ein Briefkasten. Herr Wenzel, der sie durch sein Schaufenster gesehen hat, kommt heraus und begrüßt sie.
Er sagt: »Sagen Sie, Frau Tarsi, was hat Hans denn jetzt vor?« Frau Tarsi erzählt es ihm.
Herr Wenzel ruft: »Aber das darf er nicht tun!« Der alte Mann ist ganz außer sich.
Frau Tarsi schaut ihn mit großen Augen an. »Warum darf er das nicht, Herr Wenzel?«
»Weil … weil …« Herr Wenzel weiß keine schnelle Antwort. Er steht da und schnappt nach Luft. Er setzt sich auf den Sims seines Schaufensters. Dort sitzen sonst häufig die Kinder aus der Umgebung. Zuerst kaufen sie Süßigkeiten oder Sammelbilder und anschließend unterhalten sie sich, essen ihre Süßigkeiten auf oder tauschen ihre Bildchen.
Jetzt sitzt Herr Wenzel da und sieht aus wie ein verstörtes Kind, findet Frau Tarsi. Sie setzt sich neben ihn. Sie sagt: »Lieber Herr Wenzel. Was würden Sie tun?«
Herr Wenzel hat ein Stofftaschentuch aus der Innentasche seines Jacketts gezogen. Er schnäuzt sich die Nase. Seine Augen sind feucht. Nach einer Weile schüttelt er den Kopf. Er sagt: »Vielleicht ist mein Herz zu klein.« Dabei schaut er auf den Boden und sieht so unglücklich aus, dass Frau Tarsi den Arm um ihn legt und ihn an sich drückt.
Sie sagt: »Das glaube ich gar nicht, Herr Wenzel. Wissen Sie, was ich glaube?«
Herr Wenzel schaut sie schüchtern an und schüttelt den Kopf.
Frau Tarsi sagt: »Ich glaube, Sie wachsen noch.« Sie grinst ihn an. Herr Tarsi schaut zuerst überrascht, dann lächelt er und sagt: »Sie haben recht. Seit Hans Felizia gefunden hat, ist vieles in Bewegung geraten. Ich habe plötzlich gar keine Lust mehr, Tag für Tag in meinem Laden zu stehen. Jede Gelegenheit nutze ich, um ihn zu schließen.« Er seufzt. »Dabei war der Laden meine Rettung, als Ingrid starb. Ohne den Laden wäre ich vor die Hunde gegangen wie…«, er zögert.
Frau Tarsi sagt: »Wie Hans.« Sie nickt. Sie sagt: »Es geht schneller, als man denkt.«
Herr Wenzel sagt: »Aber Männer leben näher am Abgrund. Ihr Frauen habt eine Kraft, die uns fehlt.«
Frau Tarsi schüttelt den Kopf. Sie sagt: »Nein, Herr Wenzel, Frauen gehen auch vor die Hunde. Es sieht nur anders aus.«
Herr Wenzel zögert. Er sagt: »Dann glauben Sie also, dass Veronika Kelber vor die Hunde gegangen ist?«
Frau Tarsi nickt. »Oh ja, das glaube ich. Aber sie musste funktionieren.« Sie reißt die Augen auf und ruft: »Sie hatte drei Kinder, Herr Wenzel, drei Kinder! Sie musste Tag und Nacht funktionieren und dabei ging sie doch gerade vor die Hunde!« Sie seufzt. »Ich glaube, sie hat einfach weiterfunktioniert. Sie hat ein Kind weggeworfen, weil sie am Funktionieren verrückt geworden ist. Ein Kind weniger, nicht irgendein Kind, sondern das Kind, das sie am meisten in Anspruch nahm.« Sie schaut Herrn Wenzel intensiv an. Sie sagt: »So hat sie zwei ihrer Kinder gerettet.«
Herr Wenzel starrt sie verblüfft an.
Frau Tarsi lässt ihn los. Sie steht auf. Sie sagt: »Seien Sie nicht traurig, Herr Wenzel. Ich habe großes Vertrauen in Hans. Er wird die richtige Entscheidung treffen.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Sie ruft: »Huch! Schon so spät. Ich muss kochen. Kommen Sie doch in einer Stunde zum Essen!« Sie lächelt Herrn Wenzel an und geht. Über die Straße. Durch den Haupteingang. In einem unscheinbaren Fahrzeug, das etwas weiter rechts am Straßenrand zwischen anderen Autos geparkt ist, sitzen zwei Kriminalpolizisten und schauen herüber. Sie haben alles gesehen, aber sie haben nichts verstanden.
Es dauert zwei Tage, bis sie Post vom Amtsgericht bekommen. In diesen zwei Tagen wundert Herr Balci sich, dass er Haydee kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat. Er fragt sich, ob sie Felizia inzwischen abgeholt hat oder ob sie immer noch bei ihrer Großmutter untergebracht ist. Ein so kleines Kind, denkt er kritisch und ratlos.
In diesen zwei Tagen hat die Kriminalpolizei einen neuen Hinweis bekommen. Er stammt von der Mutter eines Jugendlichen namens Arthur. Herr Lindner sucht jetzt nach einem Obdachlosen mit langem, ungepflegtem Haar und einem Rauschebart, der mit einem Baby unterwegs ist. Zu Hause
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