Glückskind (German Edition)
demnächst vielleicht eine Zukost anbieten muss. »Immer nur Flaschenmilch, das kann doch nicht gut sein«, sagt er zu Felizia, die auf dem Tisch liegt. Sie freut sich über die Flasche, ihre Beine strampeln, ihre Arme wedeln, sie stößt kleine Glückslaute aus. Als sie das Mundstück ansaugt, verstummt sie.
Seit Hans weiß, was zu tun ist, hat er den Eindruck, alles viel deutlicher wahrzunehmen. Seine Liebe zu diesem kleinen Mädchen. Seine Dankbarkeit. Wenn es einen Gott gibt, denkt er, muss er geahnt haben, wie schlimm es um mich steht. Sonst hätte er mir nicht dich geschickt, ein so starkes Gegenmittel.
Nach dem Abendessen kommt Felizia in ihren Schlafsack, Hans legt sich neben sie. Es dauert nicht lange und beide schlafen. Erst mitten in der Nacht wird Hans aufstehen, sich die Zähne putzen, ein T-Shirt anziehen und die Lichter löschen.
Am nächsten Morgen geht er mit Felizia zu den Tarsis. Er will sie dortlassen, um hinunter zu Herrn Wenzel gehen zu können. Frau Tarsi öffnet bereitwillig ihre Arme. Aber Felizia will nicht. Als Hans sie einfach der Nachbarin in die Arme drückt, fängt Felizia an, laut zu weinen, so dass er sie wieder nehmen muss.
»Was machen wir denn da?«, fragt Hans ratlos.
»Kommen Sie erst einmal herein«, befiehlt Frau Tarsi, und Hans gehorcht. Anschließend sitzen sie lange im Wohnzimmer auf dem Boden und spielen mit Felizia. Dann endlich darf Hans gehen. Das ist neu, und Hans fragt sich wieder einmal, wie viel sie bemerkt von den Dingen, die in ihm vorgehen. Er eilt zum Fahrstuhl, ruft ihn, fährt hinunter, erinnert sich kurz und schreckhaft an seinen Traum vom Vortag. Er strebt aus dem Haus, vergisst, auf das kleine Sichtfenster an seinem Briefkasten zu schauen, und überquert die Straße. Als er den Laden betritt, bimmelt es über ihm. Im nächsten Augenblick erscheint Herr Wenzel, der im Hinterzimmer Zeitung gelesen hat.
Er gibt Hans das Geld. Er zieht die Augenbrauen hoch, als Hans ihn fragt, aber es ist nur eine automatische Bewegung, die immer noch ausgeführt wird, obwohl es längst eine neue Devise gibt im Leben dieses alten Mannes, der stets festgehalten hat und der jetzt erst damit beginnt, loszulassen. Herr Wenzel drückt ein paar Tasten auf seiner Kasse, sie springt mit einem hellen Klingeln auf, Herr Wenzel greift hinein und zieht einen braunen Schein hervor.
»Was hast du vor?«, fragt er Hans.
Hans schaut ihn an, als wüsste er nicht, was er sagen soll. Und so ist es auch. Er weiß zu gut, was Herr Wenzel über Veronika Kelber denkt. Deshalb sagt er: »Ich erzähle es Ihnen hinterher.«
Und wieder läuft ein Automatismus in Herrn Wenzels Kopf ab, diesmal ist es einer, der sprechen will, er will sagen: Ich habe dir das Geld gegeben, nun schuldest du mir eine Antwort. Aber Herr Wenzel sagt nichts, er wartet einen Augenblick, gerade lange genug, um ein wenig Raum zu schaffen in seinem Kopf. Dann nickt er, und Hans verlässt das Geschäft. Er geht zu den Tarsis. Felizia freut sich über sein Erscheinen, als wäre er eine Ewigkeit fort gewesen. Er muss sie sofort auf den Arm nehmen und darf sie nicht mehr loslassen. Sie setzen sich ins Wohnzimmer auf die Sitzkissen. Herr Tarsi ist unterwegs. Er trifft sich mit einigen Exiliranern zum Debattieren.
»Das ist eine uralte persische Unsitte«, sagt Frau Tarsi und lächelt. Sie sagt: »Nun erzählen Sie mir aber, was los ist.« Sie hat bemerkt, dass Hans aufgeregt ist.
Hans schaut sie an, er sagt: »Ich muss mit Felizias Mutter sprechen.«
Frau Tarsi hält kurz die Luft an. Dann atmet sie lange aus. Sie sagt: »Das ist eine gute Entscheidung. Was wollen Sie ihr sagen?«
Hans zuckt mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Aber ich muss sie sehen.«
Frau Tarsi sagt: »Sie ist noch nicht verurteilt, es wird nicht leicht, sie zu besuchen. Glauben Sie mir, ich habe Ahnung davon.«
Sie erzählt ihm, wie sie in ihrer Zeit bei der Ausländerbehörde Menschen beistehen musste, die ihre inhaftierten Angehörigen besuchen wollten. »Viele sprachen kein Wort Deutsch, stellen Sie sich das vor! Die waren verloren ohne unsere Hilfe.« Sie schaut ihn prüfend an: »Das wird auch für Sie nicht leicht. Sie benötigen einen Sprechschein, und den muss Ihnen der Ermittlungsrichter ausstellen. Sie müssen ihn beantragen. Und Felizias Mutter kennt Sie nicht. Es kann sein, dass sie Sie nicht sehen will. Es kann sein, dass sie keine Besuchszeit mehr übrig hat. Sind Sie ganz sicher, dass Sie es trotzdem versuchen wollen?«
Hans
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