Glückskind (German Edition)
immer noch vergesse!«
Felizia lacht und patscht sich mit der Hand zwischen die Augen.
»Vergisst du das auch?«, ruft Frau Tarsi mit gespielter Überraschung. Sie beugt sich zu Felizia und kitzelt sie und ruft immer wieder: »Vergisst du das auch?« Und Felizia kichert und kichert und kichert so laut, dass die Erwachsenen lachen müssen.
Der zweite Brief geht noch an diesem Tag ab, Frau Tarsi ist wieder die Botin. Herr Wenzel hat sie gesehen, er kommt wieder heraus und Frau Tarsi erzählt ihm, was geschehen ist. Sie sitzen wieder auf dem Schaufenstersims und fühlen beide, dass schon diese eine Wiederholung etwas Neues entstehen lässt, und dieses Neue ist ein Gefühl alter Vertrautheit. Sie wehren sich nicht dagegen, Frau Tarsi, weil sie sich noch nie gegen Gefühle gewehrt hat, und Herr Wenzel, weil er es genießt. Sie schauen zum Himmel. Ein lockeres Wolkenfeld zieht eilig über sie hinweg, dort oben muss ein ziemlicher Wind wehen. Ab und zu lugt die Sonne hervor. Die Landschaft nimmt ein Wechselbad aus Licht und Schatten. Mal blitzen die Fensterscheiben des Wohnhauses gegenüber, mal sind sie graue Spiegel. Die Farben der vorbeifahrenden Autos leuchten oder wirken ganz matt, die Menschen baden im Licht und in der Wärme, und im nächsten Moment frösteln sie und warten auf die Rückkehr der Sonne.
Herr Wenzel und Frau Tarsi sprechen diesmal nicht viel miteinander. Sie kommentieren das Wetter, Frau Tarsi staunt über den Herbst, als würde sie ihn zum ersten Mal erleben. Sie nennt ihn eine Mischung aus Sommer und Winter. Herr Wenzel nickt und fragt sich, was denn dann der Frühling ist. »Eine Mischung aus Winter und Sommer«, sagt Frau Tarsi, und wieder nickt Herr Wenzel. Nach einer Weile verabschiedet Frau Tarsi sich. Während sie die Straße überquert, geht Herr Wenzel zurück in seinen Laden. Kurze Zeit später erhalten die beiden Kriminalbeamten, die diese Szene beobachtet haben, die Anweisung, ihren Posten zu verlassen, weil die Observierung des Wohnhauses beendet ist und sie nun bei der Suche nach dem unbekannten Obdachlosen gebraucht werden. Herr Lindner klärt sie telefonisch darüber auf, dass man in der Zentrale mit Hilfe eines Jugendlichen ein Phantombild erstellt hat. Die beiden Beamten machen sich auf den Weg in die Zentrale, und wenn sie dort ankommen, wird man ihnen das Bild eines Mannes in die Hand drücken, der aussieht wie Karl Marx.
Wieder vergehen zwei Tage, an denen das Leben weitergeht. An diesen zwei Tagen kann Hans Felizia nur schlafend zu den Tarsis bringen, weil sie dort wach nicht mehr zur Ruhe kommt. In beiden Nächten weint sie. Anbeiden Tagen essen sie gemeinsam mit Herrn Wenzel in Hans’ Wohnung. Der Brief kommt wieder am Nachmittag. Hans steht allein in seinem Wohnzimmer, Felizia schläft. Er setzt sich auf seinen Stuhl. Er legt den Brief auf den Tisch und schaut ihn an. Er schaut aus dem Fenster. Die Sonne scheint, ab und zu ziehen hoch oben Eiswolken vorbei, sie sehen aus wie die Federn eines gigantischen Vogels. Hans schaut den Brief an. Er fühlt sich wohl so ganz kurz vor der Entscheidung. Er müsste gar nicht wissen, wie sie lautet, könnte immer hier sitzen und wissen, dass sie gefallen ist. Er könnte ein Haus an einer Weggabelung bauen und dort sitzen und aus dem Fenster auf die Gabelung schauen und immer wissen, dass er nur einen von beiden Wegen gehen kann. Aber er muss nicht, er fühlt sich hier geborgen, hier ist ein sicheres Ende, alles Weitere wird alles Weitere für immer verändern. Hans seufzt. »Es muss sein, alter Knabe. Keine Angst!« Er nimmt den Brief und öffnet ihn. Es ist ein Sprechschein. Er ist vier Wochen lang gültig. Hans muss nun einen Besuchstermin im Gefängnis beantragen. Er darf nicht über das anhängige Verfahren sprechen, er darf maximal zehn Beutel Waldmeisterbrause mitbringen, aber sonst nichts. Mit freundlichen Grüßen, Doktor Werner Breuer, Ermittlungsrichter, gezeichnet i.A.
Hans sitzt da und hält den Sprechschein in der Hand. Er hat die Gabelung verlassen, weil einer der beiden Wege Hans gewählt hat, er hat sich ihm unter die Füße geschoben und schon geht Hans in eine Richtung und alles ist anders.
»Ich werde mit Veronika Kelber sprechen«, sagt Hans in den Raum hinein. »Mit Felizias Mutter«, sagt er. »Ich werde Felizias zweiten Namen erfahren«, er spricht laut, um sich Mut zu machen. Denn er weiß, dass er noch viel mehr erfahren wird. Er steht auf. Er sagt: »Veronika Kelber will mich sprechen. Das ist schon eine
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