Glückskind (German Edition)
Umschlag in der Hand und beobachtet, wie sie zittert. Man sieht es kaum, aber man fühlt es, wenn man derjenige ist, dem diese Hand gehört. Hans hört seinem Herzen dabei zu, wie es viel zu schnell schlägt. Er ignoriert seine Gedanken, die ihm alles Mögliche erzählen, damit er gewappnet ist, falls es nichts wird. Er geht langsam zum Fahrstuhl und fährt in den fünften Stock. Als er oben ist, läutet er bei den Tarsis. Herr Tarsi öffnet die Tür. Er sieht den Umschlag, den Hans in der Hand hält. Er versteht. Er nickt Hans zu. Sie gehen in die Küche, wo Frau Tarsi einen Tee kocht. Herr Tarsi sagt: »Der Brief ist da!«
Frau Tarsi wirft Hans einen kurzen Blick zu. Dann sagt sie: »Öffnen Sie ihn, na los!«
Hans öffnet den Umschlag. Es ist ein Anschreiben. Der Ermittlungsrichter, ein Herr Doktor Werner Breuer, klärt Hans darüber auf, dass Veronika Kelber den Grund für seinen Besuch wissen möchte, bevor sie eine Entscheidung trifft. Herr Doktor Werner Breuer bittet um ein formloses Schreiben, das er nach Prüfung an die Inhaftierte weiterleiten wird. Hans hat den Brief vorgelesen. Jetzt schaut er die Tarsis ratlos an.
Aber Frau Tarsi freut sich. Sie ruft: »Das ist großartig! Sie hat nicht Nein gesagt. Jetzt haben Sie eine Chance, ihr eine erste Botschaft zukommen zu lassen. Strengen Sie Ihren Kopf an!« Sie gießt den Tee auf. Dann bereitet sie eine Flasche für Felizia zu. Hans holt Felizia aus dem Schlafzimmer und setzt sich mit ihr an den Tisch. Während er ihr mit der einen Hand die Flasche gibt, trinkt er mit der anderen seinen Tee. Die Tarsis setzen sich zu ihnen und jetzt trinken sie alle vier. Hans’ Blick fällt auf die vielen Lebensmittel, die auf der Anrichte liegen, Äpfel, Bananen, Trauben, Himbeeren, Ananas, Fladenbrot, Zucchini, Karotten, Paprika, Fenchel, Käse, Marmeladengläser, deren Inhalte rot, gelblich, orange und grünlich schimmern. Hans hat den Eindruck, dass die Tarsis jeden Tag feiern.
Frau Tarsi reißt die Augen auf. Sie ruft: »Natürlich! Jeder Tag ist der erste vom Rest des Lebens. Das muss man feiern!« Sie lächelt Hans an, der daran denkt, wie wenig er selbst auf das Essen geachtet hat seit damals. Jahrelang hat er fast ausschließlich billige Fertiggerichte gegessen, die schlecht schmeckten, aber den Bauch füllten. Er hat sie aufgerissen und in sich hineingestopft, um den Körper am Leben zu halten. Mehr nicht. Mit Felizia hat sich das ein wenig geändert, immerhin. Er denkt an Veronika Kelber. Vor seinem inneren Auge sieht er, wie sie aus Herrn Wenzels Laden kommt und die Brause aufreißt, um sie in sich hineinzuschütten. Wie ein Kind, hat Herr Wenzel gesagt. Erneut hat Hans das Gefühl, dass sie wohl eine Menge gemeinsam haben, er und Veronika Kelber.
Plötzlich weiß er, welchen Besuchsgrund er angeben will. Er erklärt es den Tarsis. Frau Tarsi eilt davon. Felizia ist satt und zufrieden. Jetzt sitzt sie auf Hans’ Schoß, Hans hat seine Hand um ihren Bauch gelegt und Herr Tarsi macht Quatsch mit ihr. Eine Viertelstunde später kommt Frau Tarsi mit einem bedruckten Blatt wieder. Sie hält es hoch wie ein Herold und liest laut:
»Sehr geehrter Herr Doktor Breuer, liebe Frau Kelber,
ich danke Ihnen sehr, dass Sie meinen Antrag nicht gleich abgelehnt haben, und ich versichere Ihnen, dass mein Besuch für Sie mit keinerlei Unannehmlichkeiten verbunden sein wird. Im Gegenteil. In Wahrheit geht es um eine Kleinigkeit, die unwichtig erscheint, aber in Ihrer Lage vielleicht eine Bedeutung erhält, die andere übersehen könnten. Ich möchte Ihnen, Frau Kelber, Ihre Lieblingsbrause von Ahoj mit Waldmeistergeschmack bringen, die ich zum Glück gegenüber vom Wenzel gefunden habe. Ich tue dies, um wenigstens etwas aus Ihrem früheren Leben herüberzuretten in die missliche Lage, in der Sie sich derzeit befinden und die Sie, mit Gottes Hilfe und meiner kleinen Unterstützung, hoffentlich überwinden.
Mit freundschaftlichen Grüßen, da müssen Sie dann unterschreiben. Nun, wie finden Sie es?« Hans findet es sehr gelungen. Er bedankt sich bei Frau Tarsi. Frau Tarsi strahlt ihn stolz an. Herr Tarsi klatscht dreimal in die Hände und drückt seiner Frau einen Kuss auf die Stirn.
Sie sagt: »Ich habe es nicht verlernt, das Schriftdeutsch! Was glauben Sie, wie hart es war, das zu lernen! Wenn schon die Deutschen sich damit schwertun!«
»Aber Sie sind doch Deutsche«, sagt Hans.
Sie schlägt sich theatralisch die flache Hand vor die Stirn: »Stimmt ja! Dass ich das
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