Glückskind (German Edition)
Mülltonne geworfen, weil ich unfähig bin, Mutter zu sein! Ich weiß gar nicht, was mich geritten hat, dass ich so früh so viele Kinder haben wollte. Das war alles eine große Dummheit, ein Wahnsinn. Und jetzt habe ich eine Tür hinter mir zugeschlagen, die nie wieder aufgehen wird, nie wieder!«
Hans seufzt. Er schließt die Augen. Er legt die Hände vor das Gesicht. Dieses Gespräch verläuft nicht so, wie er es sich erhofft hat. Veronika Kelber erscheint ihm überhaupt nicht mütterlich, eher wie eine halbwüchsige Tochter, die sich mit ihrem Vater streitet. Aber sie sitzt immer noch vor ihm, sie ist nicht aufgestanden und nicht weggegangen.
Wartet sie auf irgendetwas?, fragt Hans sich. Und wenn ja, worauf? Er weiß es nicht, er weiß nur, dass er nicht weiß, was er ihr jetzt noch sagen soll. Er sagt: »Gut. Wenn Sie glauben, dass alles im Leben eine Einbahnstraße ist, wenn Sie nicht sehen, dass gerade die schlimmsten Dinge uns die größte Chance bieten, etwas zu lernen und damit zu beginnen, unser Leben zu verändern, dann gehe ich jetzt wieder und ziehe Ihre Tochter allein auf. Aber ich werde sie nicht anlügen, ich werde ihr die Wahrheit erzählen, ich werde sie von einem Therapeuten zum anderen schicken, damit sie lernt, diese Wahrheit zu verdauen, und wenn sie alt genug ist, dann werde ich sie hierherbringen, in dieses beschissene Gefängnis, und dann müssen Sie entscheiden, ob Sie Ihr Kind empfangen wollen oder nicht.«
Er macht Anstalten aufzustehen, aber sie hält ihn am Arm fest. Sie sagt: »Nein! Das werden Sie nicht tun. Ich will, dass Sie Chiara zu ihrem Vater bringen. Sie soll bei ihren Geschwistern sein.« Hans sieht ihr in die Augen. Da ist die Mutter, denkt er, es gibt sie doch in dir. Er sagt: »Ich denke gar nicht daran.« Er will sich losreißen, aber sie hält ihn fest und Hans wundert sich darüber, wie stark sie ist.
Eine Beamtin nähert sich dem Tisch. Sie sagt: »Alles in Ordnung hier?«
Veronika lässt Hans los. Sie sagt: »Ja, alles in Ordnung.«
Hans nickt der Frau zu. Die Beamtin entfernt sich wieder.
Veronika sagt: »Wenn Sie Chiara nicht zu ihrem Vater bringen, zeige ich Sie wegen Kindesentführung an.«
Hans sagt: »Ist mir egal.«
Veronika weist zu der Tür in Hans’ Rücken. Sie sagt: »Nur zu, gehen Sie. Sie werden ja sehen, was geschieht.«
Hans erhebt sich. Er sagt: »Ich fahre jetzt zu Felizia zurück.«
Veronika sagt: »Sie heißt Chiara!«
»Auf Wiedersehen!«
Veronika erwidert seinen Gruß nicht. Sie starrt ihn wütend und hilflos an. Hans wendet sich ab. Eine Beamtin kommt auf ihn zu und bringt ihn nach draußen.
Als er endlich durch die vielen Pforten nach draußen gelangt ist und vor den beiden Auffahrten, dem Rasenstück und den drei Fahnenmasten steht, bricht er in Tränen aus. Er stolpert die Auffahrt entlang, biegt nach rechts und begibt sich auf demselben Weg, den er gekommen ist, zum Bahnhof. »Du hast nichts falsch gemacht«, sagt er, »nichts falsch gemacht, gar nichts hast du falsch gemacht.« Was hätte er auch anders machen können? Hätte er vielleicht taktvoller sein sollen, hätte er nicht so tun sollen, als hätte sie ihm Felizia, nein, Chiara, nein, Felizia Chiara gegeben? Hat das vielleicht bei ihr den Eindruck erweckt, er wolle ihre große Schuld vertuschen? Vielleicht war es das, vielleicht hat sein Versuch, den Abhörern ein Schnippchen zu schlagen, ein Missverständnis zwischen ihnen verursacht. Aber vielleicht auch nicht. Er bleibt stehen. Und wenn Veronika Kelber recht hat? Wenn sie sich zuerst um sich selbst kümmern muss? Vielleicht ist dies ihre große Chance, es endlich zu tun. Vielleicht hat sie es nie getan, und jetzt, im Gefängnis, ist sie endlich dazu in der Lage. Hans geht weiter. Dann hätte sie in kürzester Zeit das erreicht, wozu er viele Jahrzehnte benötigt hat. Und er kann es immer noch nicht ohne Hilfe, er hat erst damit begonnen, als er sich endlich wieder um jemand anderen kümmern konnte, um Felizia. Felizia Chiara. Er bleibt wieder stehen. Veronika Kelber hat recht, denkt er. Wenn sie nicht in der Lage ist, muss ich mich an den Vater wenden. Das ist ganz logisch!
Er geht weiter. Warum habe ich das nicht früher erkannt, denkt er. Ich habe in ihr nur jemanden gesehen, den man korrigieren, den man ermahnen muss. Verdammt! Als wäre sie meine Tochter. Aber sie ist nicht meine Tochter, und Felizia ist nicht mein Enkelkind. Verdammt! Woher bekomme ich jetzt die Adresse des Vaters? Wie heißt er überhaupt?
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