Glückskind (German Edition)
hinter der alten Steinmauer mit ihrer Schindelkrone eine zweite Mauer verläuft. Sie ist aus Beton und oben wellt sich dichter Stacheldraht. Sie sieht unüberwindlich aus. Das Gebäude, auf das sie zugehen, liegt nicht genau in der Flucht, sondern verläuft leicht diagonal nach links. Sie betreten es auf die gleiche Weise, wie sie das Pförtnerhaus verlassen haben: Läuten, Piepton, Entriegelung, Aufdrücken.
Im Innern des Gebäudes führt ein breiter Gang weiter in das Innere der Anstalt. Von dort kommt ihnen eine Frau entgegen. Sie trägt blaue Baumwollkleidung, eine Hose, ein Hemd, flache Schuhe, ihre Haare sind zu einem Zopf gebunden. Eine Beamtin folgt dicht hinter ihr. Die Frauen werfen Hans einen kurzen Blick zu, bevor sie nach rechts in einen schmalen Gang abbiegen. Auch Hans und seine Begleiterin müssen hier entlang. Der Gang endet an einer Tür. Wieder das hohe Geräusch, die Entriegelung der Türen, ein Gefängnis ist eine Verschachtelung von Pförtnerhäusern, denkt Hans. Dahinter öffnet sich ein großer Saal mit hoher Decke. Neun Tische stehen hier unregelmäßig verteilt, an jedem Tisch vier Stühle. Die Einrichtung sieht aus, als müsse es irgendwo eine Theke mit Kaffee und Kuchen geben. Stattdessen stehen in allen vier Ecken Polizeibeamte und lassen ihre Blicke unentwegt über die Menschen an den Tischen schweifen. Auf der einen Seite Frauen in blauer Kleidung, auf der anderen Seite Leute, die ganz unterschiedlich gekleidet sind. Die Frau, die vor Hans geht, begibt sich zu einem der Tische. Dort sitzen zwei alte Menschen, ein Mann und eine Frau, und schauen ihr erwartungsvoll entgegen. Hans muss sich an den einzigen freien Tisch setzen. »Frau Kelber kommt gleich zu Ihnen«, sagt die Beamtin, »und ich hole Sie hier in einer halben Stunde wieder ab.« Sie verschwindet durch die Tür.
Hans sitzt da und schaut sich um. Es gibt Leute, die in Gespräche vertieft sind, andere, die unentwegt über irgendetwas leise lachen. Die Frau, die sich zu dem alten Paar gesetzt hat, weint, während sie leise spricht, ihre Eltern, es müssen ihre Eltern sein, machen traurige Gesichter. Alle Stimmen sind gedämpft. Hans wird mit einem Mal bewusst, dass es mit ihm nie so weit gekommen ist und dass seine Verbrechen nicht vom Staat geahndet werden mussten, weil seine Familie das schon getan hat. Dass es Verbrechen gibt, von denen die Gesellschaft nichts erfährt, weil sie unterhalb ihrer Wahrnehmungsschwelle bleiben. Und das Gleiche gilt für den Schaden, den er seiner Frau und seinen Kindern zugefügt hat. Und auch Lena und Anne, denkt Hans. »Und mir selbst«, murmelt er, denn das darf er niemals vergessen und er vergisst es so leicht.
Hans sitzt mit dem Rücken zu der Tür, durch die er kam. Jetzt ertönt von dort das Piepen, die Tür wird geöffnet. Hans wendet sich um. Eine Frau betritt den Besucherraum, sie ist blau gekleidet. Die Beamtin, die sie begleitet, weist auf Hans. Sie schaut suchend, dann treffen sich ihre Blicke zum zweiten Mal. Die Beamtin bringt sie bis an den Tisch. Sie ist viel kleiner und zierlicher, als Hans sie sich vorgestellt hat, ein zerbrechlicher Mensch. Sie setzt sich, die Beamtin entfernt sich. Sie schaut sich um. Dann, plötzlich, blickt sie Hans direkt in die Augen.
Sie sagt: »Was wollen Sie?«
Es klingt nicht brutal und nicht abschätzig. Es ist die Frage eines Menschen, der gelernt hat, nur noch über Wesentliches zu sprechen. Hans räuspert sich. Er weiß nicht, wie er beginnen soll. Er blickt sich um. Offenbar wird ihr Gespräch nicht abgehört. Aber er will vorsichtig sein.
Er sagt: »Ich kann unsere Abmachung nicht länger einhalten.«
Veronika Kelber schaut ihn verwirrt an. »Welche Abmachung?«
Hans sagt: »Ich kann nicht zulassen, dass Sie wegen Mordes verurteilt werden, obwohl Sie Ihr Kind in Wahrheit bei mir in Obhut gegeben haben.«
Sie starrt ihn an. Hans kramt in seiner Tasche. Er zieht die beiden Fotos heraus und zeigt sie ihr. Sie schaut die Fotos bestürzt an, Tränen schießen ihr in die Augen. Dann sieht sie Hans wieder an. Leise, so leise, dass Hans es kaum hört, sagt sie: »Sie haben sie gefunden?«
Hans schüttelt den Kopf. Er sagt: »Hören Sie auf damit. Ich habe sie nicht gefunden. Sie haben sie mir gegeben, und jetzt wollen Sie sich wegen Mordes verurteilen lassen. Ich verstehe das nicht.«
Sie lehnt sich zurück. Mit einem Mal schaut sie ihn beinahe liebevoll an. Jetzt sieht Hans wieder ihre Trauer. Sie sagt: »Ich kenne Sie. Sie sind am Auto
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