Glücksklee
eigentlich nie richtig als Mutter gesehen, hatte immer das Gefühl gehabt, dass dafür noch viel Zeit blieb. Wenn es dann so weit war, würde sie es einfach spüren. Schließlich kam im Leben einer jeden Frau der Zeitpunkt, da sie es einfach spürte, oder? Obwohl – vielleicht waren solche Gedanken mit vierundzwanzig angebracht, aber nicht mehr mit fünfunddreißig.
Es war merkwürdig, aber sich niederzulassen und eine Familie zu gründen, schien Jess immer noch etwas für ältere, reifere Menschen zu sein. Sie fand, dass Brian und sie dieses Stadium noch nicht ganz erreicht hatten. Ihr Mutterinstinkt hatte sich noch nicht gemeldet, und deswegen kamen Babys in ihren Plänen noch nicht vor.
Jess ging ins Schlafzimmer und schlüpfte in eine Pyjamahose und ein altes T-Shirt und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann schaute sie sich in dem Zimmer um, das sie mit ihrem Mann teilte. Von der Ruhe, die sie in diesem stillen Raum mit der hellen Einrichtung und den luxuriösen Stoffen normalerweise überkam, spürte sie heute nichts. Sie versuchte, ihr Schlafzimmer mit Emers Augen zu sehen. Vermutlich würde ihrer Freundin zwar auffallen, wie schön der Raum war, aber ihr würde wohl auch etwas fehlen, denn der Fußboden war nicht mit Spielzeug übersät.
Auf einmal begann Jess, sich innerlich zu wehren. Warum sollte sie sich von dieser Sache so quälen lassen? Sie war doch zufrieden mit ihren Entscheidungen, zufrieden mit ihrem Leben, so wie es war. Oder jedenfalls war sie es bis heute gewesen.
Sie wünschte sich sehnlichst, mit Brian über den Vorfall sprechen zu können, und an jedem anderen Tag hätte sie ihn auch sofort angerufen, aber in diesem Moment saß er im Flugzeug, in zehntausend Metern Höhe auf dem Rückweg von Singapur. Sie konnten erst darüber reden, wenn er nach Hause kam.
Jess seufzte. Das Warten fiel ihr so schwer. Sie musste mit jemandem sprechen, musste sich jemandem anvertrauen und sich vergewissern, dass es keine Einbildung war, sondern dass ihre Freundschaft mit Emer tatsächlich in Gefahr war.
Während sie vor dem offenen Kleiderschrank stand, fiel ihr Blick auf ein Kleid von Diane von Fürstenberg, das ihre Freundin Deirdre so bewundert hatte, als sie es das letzte Mal getragen hatte. Natürlich, Deirdre! Es gab keine bessere Gesprächspartnerin, denn Deirdre war sowohl mit ihr als auch mit Emer befreundet und würde Licht in die Geschichte bringen können. Sie wohnte ebenfalls in Lakeview und war Mutter von zwei Kleinkindern, was aber, soweit Jess sich erinnern konnte, nie negative Auswirkungen auf ihre Freundschaft gehabt hatte.
Ein bisschen aufgemuntert von der Aussicht, ihre Sorgen mit einer mitfühlenden Dritten besprechen zu können, griff Jess nach dem Telefon auf ihrem Nachttisch und wählte Deirdres Nummer.
Es klingelte siebenmal, und Jess befürchtete schon, dass ihre Freundin nicht zu Hause war. Doch beim achten Klingeln nahm sie schließlich ab.
«Hallo?», keuchte Deirdre, und Jess fiel auf, wie erschöpft sie klang.
«Deirdre, hallo. Hier ist Jess.»
«Ach, hallo! Wie schön!»
Jess hörte die echte Herzlichkeit in der Stimme ihrer Freundin und fühlte sich schon wohler. «Wie geht’s dir? Ich wollte dich einfach mal anrufen und –»
«Jungs, ich habe NEIN gesagt! Moment mal eben, Jess. Hier ist gerade der dritte Weltkrieg ausgebrochen.» Deirdre wartete keine Antwort ab, sondern legte den Hörer hin und schimpfte mit einem ihrer Jungen. Anscheinend hatte er irgendetwas mit einem Frosch angestellt. Jess wartete geduldig darauf, dass ihre Freundin zurückkam.
«Entschuldige, Jess», stöhnte Deirdre schließlich. «Die Kinder sind beide schlecht gelaunt, und ich bin schon den ganzen Tag dabei, Streitereien zu schlichten.»
«Keine Sorge», sagte Jess, «das kann ich mir lebhaft vorstellen.» Aber konnte sie das wirklich?
«Also, wie geht’s dir?», erkundigte sich Deirdre.
«Na ja …» Jess wusste nicht recht, wie sie das Thema ansprechen sollte, ohne sich furchtbar blöd vorzukommen. «Ich habe grade … eine kleine Krise, weißt du.»
«Eine Krise? Du?», sagte Deirdre mit einem schwachen Lachen, als wäre schon der bloße Gedanke absurd. «Na, lass mich mal raten – kriegst du die neuen Schuhe von Jimmy Choo nicht in deiner Größe?»
Das sollte wahrscheinlich bloß ein Scherz sein, aber Jess verließ sofort wieder der Mut. Hielt ihre Freundin sie wirklich für so oberflächlich, dass einzig und allein Probleme mit ihrer Garderobe eine Krise
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