Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Begrüßungsworte durch den Saal. Sie waren genauso gepflegt
wie er selbst und ohne jeden Anspruch auf Originalität. Katinka übernahm. Anders
als ihr Vorredner versuchte sie es erst gar nicht mit komplizierten Sätzen und bedeutungsschwangeren
Vokabeln, sondern kam schlicht und direkt auf den Punkt: dass Frauen wie Daniela
Werner-Buttgereit ein Vorbild für sie seien. Nicht aufgrund ihrer sportlichen Leistungen
– deswegen natürlich auch –, sondern wegen ihres persönlichen Mutes und ihrer Bereitschaft,
über den Tellerrand zu blicken. Mit dem Teller, so viel war klar, meinte sie den
Sport selbst, das Schinden und Überwinden. Was sich ihrer Meinung nach allerdings
jenseits des Randes befand, ließ sie offen.
»Familie«,
erklärte ich dem Barkeeper mit erhobenem Glas. »Freunde und Blutsbrüder. Das wahre
Leben, capito?«
Er nickte.
Katinkas
klare Stimme, ihre konzentrierte Art zu sprechen, waren ein Genuss. Da der Monitor
stets nur die Bühnentotale zeigte, ließ sich ihre Mimik bestenfalls erahnen. Trotzdem
machte sie eine prima Figur. Als sie fertig war, hätte ich beinahe mitgeklatscht.
»Ich nehme
noch so einen«, signalisierte ich dem Barkeeper. Auf dem Tresen entdeckte ich ein
Tablettenröhrchen, das Frau Werner bei ihrem überhasteten Aufbruch vorhin vergessen
haben musste. Irgendwie machte das Ding einen hoffnungslos altmodischen Eindruck.
Die Aufschrift, die Farben, das leicht vergilbte Etikett … Trotzdem musste ich beim
Haltbarkeitsdatum zweimal hinschauen, bevor ich es glaubte: Die Pillen stammten
aus den Siebzigerjahren!
»Dianabol«,
las ich. »Wird so was heutzutage noch genommen?«
Der Barkeeper,
der mir den Whisky brachte, zuckte mit den Achseln. Erst jetzt fiel mir auf, wie
muskulös er war. Ich zwinkerte ihm zu. Na komm, Alter, kannst mir ruhig verklickern,
wie das so läuft bei euch in der Muckibude!
Keine Reaktion.
Der Monitor.
Max, lass dich nicht ablenken! Oben hatte die ehemalige Schwimmerin mit ihrem Vortrag
begonnen. Überraschenderweise war ihre Stimme genauso klar und deutlich wie die
Katinkas, da gab es kein Wackeln und kein Zittern. Beim Betreten des Saals musste
die Dame einen Konzentrationsflash abbekommen haben. Oder es lag am Whisky.
»Kennen
Sie die Geschichte mit Honecker und seinem Hund?«, fragte Daniela Werner-Buttgereit.
Ich kannte
sie nicht und das Publikum im Saal offenbar auch nicht. Es war eine lustige Geschichte,
vielleicht sogar für den Hund, leider kam danach nur noch wenig zum Lachen. Eigentlich
gar nichts mehr. Die Werner erzählte von ihrer Zeit in der DDR bis 1979, von ihrer
Zeit in der BRD seit 1979, und in ihrer Darstellung schrumpfte der Unterschied zwischen
den beiden Systemen auf den Transportweg der Dopingmittel. Im Osten schwor man auf
Kombinatsware von Jenapharm, im Westen orderte man direkt bei der Ciba AG.
Ciba? Tatsächlich,
auf dem vergessenen Medikamentenröhrchen fand ich den Namen der Basler Firma, die
längst ganz anders hieß. Neuer Name, neues Image, und das war auch dringend nötig
gewesen, nachdem man zwischenzeitlich den halben Rhein vergiftet hatte. Zum Wohle
der Menschheit.
Aber weiter
im Text. Was nach 1986 noch an Fischen im Rhein schwamm, war krank, deformiert,
entstellt, toxisch. Da sah es in der DDR kaum besser aus. Die einstigen Goldfische
des Arbeiter- und Bauernstaats, Weltklasseschwimmerinnen allesamt, plagten sich
mit Rückenproblemen, Hautproblemen, Herzproblemen herum. Wer schlau war, hatte dem
Leistungssport mit 20 Jahren Adieu gesagt. Wer noch schnell ein paar Weltrekorde
schwamm, war heute Dauergast bei den Krankenkassen. An den Fingern ihrer großen
Hände zählte die Werner das Arsenal der Spätfolgen ab: Leberschäden, Nierentumore,
Herz-Kreislauf-Krankheiten, Lungenembolien, Unfruchtbarkeit, Eierstockzysten, Schwangerschaftsstörungen,
Prostatakrebs, Stoffwechselprobleme, Fehlgeburten … Die Finger reichten nicht. Ganz
zu schweigen von den Frauen, die ihr Frausein abgelegt hatten. Virilisierte Wesen,
Zwitter, nicht mehr weiblich und noch nicht Mann. Es sei denn, sie ließen sich das
neue Geschlecht nachträglich operativ bestätigen.
Und im Westen?
»Es mag
zynisch klingen«, sagte die Werner mit ihrer tiefen Stimme, »aber das systematische
Staatsdoping der DDR hatte auch was Gutes. Man stand nämlich unter Aufsicht. Anders
als die West-Konkurrenz, die quasi zum Selbstversuch gezwungen war.«
Und der
konnte schon einmal tödlich enden, wie bei jener Siebenkämpferin aus Mainz, die
alles geschluckt
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