Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
weitere Befriedigung, Befriedigung
durch Gold, brauche den Aufschrei der Massen, die Wut der Unterlegenen. Wusste gar
nicht, wie viel Hass ich plötzlich empfinden kann. Guten Hass, kraftvoll rekordgeilen
Hass.
Doch mich
blendet die Münchner Sonne. Ab in die Katakomben! Wo es nach Tod riecht, nach Fäulnis
der Körper. Strotzend vor Kraft torkle ich durch die Gänge. Remple eine Kugelstoßerin
an, die sich gerade ihrer akneübersäten Haut entledigt. Ja, sie zieht sie einfach
aus, dass rechts und links der Talg tropft. Die Haut darunter ist glatt und rein
und trägt den Stempel – doch, doch, ich sehe es genau – trägt den Stempel von Jenapharm.
Ihre Kollegin rasiert sich, aber der Bart wächst schneller, als der Rasierer pflügt.
Zwischen den Beinen quillt es hervor wie Unterholz, auch die Schultern sind dunkel
überwuchert.
»’tschuldigung«,
sage ich und will mich vorbeidrücken.
»Die Dosis«,
dröhnt eine tiefe Stimme hinter mir. »Auf die Dosis kommt es an!«
Ich fahre
herum. Was erlaubt sich der Kerl – ich korrigiere: die Kerlin – mit seinen großen
Händen – korrigiere: mit ihren Händen – an meiner Fahne herumzufummeln? Entscheide
dich erst, ob du Mann oder Weib bist! Ohne Brüste kannst du nicht mehr bei den Frauen
starten. Seit wie vielen Monaten bleibt deine Blutung aus? Du hast ein Kreuz wie
ein Kleiderschrank, trotzdem bin ich stärker als du.
»Fass mich
nicht an!«, schreie ich und ramme dem Pharmaprodukt meine Fahne in den Bauch. Ebenso
gut hätte ich gegen die Berliner Mauer anrennen können. Das Mannweib holt aus und
wischt mir eine, dass ich rücklings gegen eine Stahltür stolpere. Mit quietschenden
Angeln gibt die Tür nach. Ich purzle hinterher.
»Zur Brustabnahme?«,
kreischt es über mir. »Hinten anstellen!«
Der Raum
ist voller Männer. Gewichtheber, die zu viel von dem haben, was den Frauen draußen
fehlt. Wer entlassen wird, tastet vorsichtig nach der Operationsnarbe unter seinen
Brustwarzen. Gott würfelt nicht, aber der Mensch würfelt mit seinen Chromosomen.
Das Gesicht
eines Äskulapjüngers schiebt sich in mein Blickfeld. »Oder kommen Sie zur Hodenvergrößerung?
Das kann dauern, junger Mann! Das kann dauern.«
»Was gehen
dich meine Hoden an?« Weg mit dem Kerl! »Meine Hoden sind groß genug, verstehst
du? Gigantisch sind die!«
Neidische
Blicke der Gewichtheber. Besser, ich verschwinde von hier.
Im nächsten
Raum liegen Leichen. Fein säuberlich übereinandergestapelt und enthaart, bleiche
Schaufensterpuppen, denen der Schädel mit einem Dosenöffner aufgeschnitten wird.
»Das Hirn«, doziert der leitende Mediziner, »auf das Hirn kommt es an. Und da auf
die kleinsten Bestandteile.« In seiner Montur – Frack, Zylinder, weiße Handschuhe
– sieht er aus wie ein Zauberer, und wie ein Zauberer klaubt er eine winzige Drüse
aus dem hinteren Teil eines klaffenden Schädels. »So ein Dingelchen nur, doch in
ihm liegt das Geheimnis unseres Wachstums. Und wer von uns wollte nicht wachsen?
Der längere Arm wirft den weiteren Speer. Je dicker der Muskel, desto goldener die
Medaille. Wer möchte ein Tröpfchen?« Alle Anwesenden heben die Hand. Reihum geht
der Zauberer und presst etwas Drüsensekret in die geöffneten Münder der Athleten.
Und siehe da, schon geht es los mit dem Wachstum. Bei dem einen schwillt die Nase,
beim anderen die Hände. Ohren plustern sich mächtig auf, Zähne werden zu Hauern,
Unterkiefer stoßen vor in die Tiefe des Raumes.
Bevor ich
an der Reihe bin, werde ich abgelenkt. Da sind Geräusche, Geräusche von nebenan.
Muht da nicht etwas? Seit wann gibt es Milchtiere in den Stadionkatakomben des IOC?
Schnell um die Ecke lugen. Tatsächlich, da stehen Kälber, wohlgenährte, offenbar
urbayrische Wonneproppenkälber. Ein Anblick zum Dahinschmelzen! Während es draußen
trachtenzugmäßig von den Olympiaparkhügeln böllert und kracht, schmatzen hier unten
kulleräugige Mastviecher. Sie kennen nicht die Mühsal des Graszupfens; die Kraft
kommt als Futterbrei direkt in ihre Mäuler. Und beim Schmatzen sind sie nicht allein.
Die hübschesten, schlanksten, blondesten Sportlerinnen hängen, Maul voraus, über
den Mastfuttertrögen der Kälber und schlürfen mit ihnen den Brei. Wollen auch mal
Kälber sein: glückliches Schlachtvieh mit Knopf und Nummer im Ohr.
»Und Sie?«,
fragt mich die Blondeste der Blonden, die eben aus dem Trog auftaucht. Reste von
Mastsuppe hängen in ihren Mundwinkeln. »Was nehmen Sie?«
»Whisky.
Reinen schottischen
Weitere Kostenlose Bücher