Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
oben auf dem Monitor war leer; ab und
zu sah man im Vordergrund einen Kopf und Schultern vorbeihuschen, wenn ein Besucher
seinen Platz einnahm. In einer Viertelstunde würde die Veranstaltung beginnen.
»Müssen
Sie da auch rein?«, fragte die Alte, die meinen Blick bemerkt hatte.
»Nee, ich
darf schwänzen.«
»Sie Glückspilz«,
seufzte sie. »Ich war schon drauf und dran, dem Taxifahrer zu sagen, er solle umkehren.
Aber man hat ja seine Verpflichtungen.«
Ich grinste.
Wegen ihrer Leidensmiene, und weil sie mich einen Glückspilz genannt hatte. Glücksritter,
Glücksjunge, Glücksspieler – mit Katinkas Namen ließen sich hübsche Wortspiele anstellen.
Auch wenn gerade Eiszeit zwischen uns herrschte.
Achselzuckend
legte der Barkeeper die Pillenschachtel auf den Tresen zurück. Man musste kein Hellseher
sein, um zu erahnen, was er von der Alten hielt. Die kramte weiter in ihrer Handtasche
herum.
»Verpflichtungen?«,
nahm ich ihr letztes Wort auf. »Klar, die hat jeder. Aber man kann alles übertreiben.
Irgendwann reicht es, und deshalb verzichte ich gern auf so eine dämliche Lesung.«
Groß und
rund ruhten ihre Augen auf mir. »Da haben Sie recht«, nickte sie langsam. Und dann,
als fiele es ihr eben erst auf: »Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?«
»Sport.«
»Boxen?«
»Radfahren
plus Bodenturnen.«
»Aha.«
»Wenn Sie
einen mit mir trinken, erzähle ich Ihnen die Geschichte. Da warten noch einige Whiskys
darauf, probiert zu werden.«
Keine Ahnung,
warum ich das sagte. Ich spürte, dass ich Lust hatte, mich mal wieder so richtig
zu besaufen; aber seit wann brauchte ich dazu Gesellschaft? Lieber ohne Zeugen vom
Stuhl rutschen. Ja, wenn die Dame 40 Jahre jünger gewesen wäre! In Katinkas Alter
zum Beispiel.
»Ich würde
gern«, sagte sie ernsthaft. »Das können Sie mir glauben. Ich fürchte bloß …«
Sie sah
auf, denn wir waren nicht mehr allein. Ein distinguierter älterer Herr – derselbe,
mit dem sich Katinka eben im Saal unterhalten hatte, ich erkannte ihn an seinem
Silberhaupt – trat mit ausgebreiteten Händen auf uns zu.
»Da sind
Sie ja, Frau Werner! Warum kommen Sie nicht herein? Wir fangen gleich an!«
Der Hilfe
suchende Blick, den sie mir zuwarf, sagte alles. Ich hörte sie den Namen des Mannes
oder wenigstens einen Teil davon stottern, während sie gleichzeitig aufstand und
nach ihrem Whiskyglas tastete. »Wenn es sein muss …«
»Frau Glück
wartet auch schon sehnsüchtig auf Sie!«
»Na, dann
…« Mit einer energischen Bewegung kippte sie sich den restlichen Whisky hinter die
Binde. Als sie das Glas zurückstellte, hätte sie um ein Haar den Tresen verfehlt,
weil sie ihre runzligen Backen bereits dem Distinguierten hinhielt, der sie auch
gleich mit gespitzten Lippen zu bearbeiten begann. Der Barkeeper verfolgte das Spektakel
so lange mit schräg gelegtem Kopf, bis er einen Zehneuroschein zugesteckt bekam.
Schwupp, saß der Kopf wieder grade auf dem Hals.
»Einen schönen
Abend noch«, seufzte die rothaarige Dame. »Und wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf:
Schreiben Sie niemals ein Buch!«
Damit ging
sie, von Häuptling Silberlocke sicher geführt. Beide verschwanden im Eingang zum
kleinen Saal.
»Kannten
Sie die Frau?«, fragte ich den Barkeeper. Der schüttelte den Kopf.
In einer
Hosentasche fand ich den zerknitterten Flyer der Veranstaltung, den mir Katinka
schon vor einer Woche gegeben hatte. Das Buch hieß »Im Sumpf«, es ging um Doping
und seine Folgen, und die Autorin hieß Daniela Werner-Buttgereit. Einstige Weltklasseschwimmerin
und Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in München und Montreal. Geboren in
Karl-Marx-Stadt.
»Wenn sie
wenigstens gesächselt hätte«, dachte ich melancholisch und nahm einen Schluck Whisky.
Auf dem
Monitor tat sich etwas. Katinka, meine Barbekanntschaft und der Silbermähnige nahmen
auf dem Podium Platz. Ich hörte Applaus, und zwar lustigerweise sowohl aus dem Saal
als auch, etwas zeitversetzt, aus den Bildschirmlautsprechern. Dann wurden die Türen
geschlossen, und vorbei war es mit der Echowirkung.
»Hallo?«
Ich schnippte nach dem Typen hinter dem Tresen. »Entschuldigung, kann man den Ton
etwas lauter stellen?«
Schweigend
tat er mir den Gefallen. Ich war sein einziger Gast, und daran sollte sich im Verlauf
der nächsten Stunde auch nichts ändern. Was noch an Publikum in den Gasteigfluren
unterwegs war, strebte den Toiletten zu und anschließend ins Konzert. Über uns schickte
Häuptling Silberlocke seine
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