Glut der Gefuehle - Roman
waren verständlich und interessierten den Viscount bloß am Rande. Für Darrow galt das nicht. Was er dachte, nahm der Viscount sehr ernst. Der Kammerdiener stand schon sehr lange in seinen Diensten und fungierte oft genug als Vertrauter und Beichtvater, Berater und Freund. Stets bemüht, seine Grenzen nicht zu überschreiten, äu ßerte Darrow seine Meinung nur, wenn er danach gefragt wurde.
Aber an diesem Morgen hatte er sich anders besonnen, hatte gegen India Parrs Gefangenschaft protestiert und ihre Freilassung verlangt. Natürlich war Southerton nicht darauf eingegangen. Letzten Endes hatte der Kammerdiener den Kopf geneigt und gemurmelt: »Wie Sie wünschen, Mylord.« Danach hatte er wie gewohnt seine Pflichten erfüllt, umsichtig und ehrerbietig.
Ob beabsichtigt oder nicht – India hatte in Darrow einen Verbündeten gefunden.
Da Southerton sie nicht wecken mochte, wandte er sich um und wollte zur Tür gehen. Dabei stieß sein Fuß gegen etwas, das am Boden lag, teilweise unter dem Bett versteckt. Neugierig bückte er sich und hob ein Skizzenbuch auf. Um es in besserem Licht zu betrachten, trug er es zum Fenster.
Allzu viele Illustrationen enthielt der Block nicht. Nur auf den ersten Seiten waren Zeichnungen zu sehen. Jetzt erinnerte er sich, dass dieses Skizzenbuch, in braunes Papier gewickelt, einer der Einkäufe gewesen war, die er am Vortag ins Haus gebracht hatte, zusammen mit Kleiderstoffen und anderen Dingen. Offenbar wollte India eine
neue Garderobe für die ›widerspenstige Katharina‹ entwerfen.
Er schaute zum Bett hinüber, unter dem er den Block gefunden hatte. Dort lagen auch Blei- und Kohlestifte, die India für ihre Skizzen benutzte. Während er ihre Werke begutachtete, bewunderte er ihr Talent. Mit erstaunlich wenigen Linien gelang es ihr, den Stil eines Kostüms zu umreißen und die Wirkung darzustellen, die es auf der Bühne erzielen würde. Er glaubte zu erraten, welche Zeichnung für das auffallende rote Kleid bestimmt war, das ›Gold-Käthchen‹ tragen würde, wenn Petruccio sie zu heiraten beschloss. Obwohl die Skizze eine gesichtslose weibliche Gestalt zeigte, erkannte er in den schlanken Konturen Indias Figur – im kühnen Schwung einer vorgeschobenen Hüfte, in den Armen, herausfordernd in die Seiten gestemmt. Die Schultern waren gestrafft, das Kinn auf jene bereits vertraute, eigenwillige Art erhoben. Unter dem Rocksaum ragte ein schmaler Fuß hervor, der lebhafte Ungeduld bekundete. Beinahe glaubte er die Zehenspitzen auf den Boden klopfen zu sehen.
Wie so oft drückte Indias Körper eine Vielzahl von Gefühlen aus, während ihr Gesicht eine Maske blieb.
»Was machst du da?«
Vertieft in seine Betrachtungen, hatte er nicht bemerkt, dass India sich auf dem Bett bewegt hatte. Er wandte sich zu ihr und lächelte. »Soeben würdige ich ein weiteres deiner Talente«, erwiderte er in beiläufigem Ton und weigerte sich, Gewissensbisse zu verspüren. Dann blätterte er die Seite um und studierte eine andere Illustration. »Deine Skizzen sind ausgezeichnet. Mit etwas Fleiß und Disziplin könntest du diese Kunst vervollkommnen.«
Langsam richtete sie sich auf, immer noch müde und
leicht benommen. Es fiel ihr schwer, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie hatte nur kurz die Augen schließen und wenigstens teilweise den Schlaf nachholen wollen, den sie letzte Nacht versäumt hatte. Aber statt erfrischt zu erwachen, fühlte sie sich erschöpfter denn je. Mit einiger Mühe schwang sie die Beine über den Bettrand und versuchte, ihr Hemd nach unten zu ziehen, um ihre nackten Unterschenkel zu bedecken.
»Würdest du mir den Block geben?« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Bitte!«
»Natürlich.« South klappte das Skizzenbuch zu, ging zu India und hielt es ihr hin.
Ohne es anzuschauen, griff sie danach und schob es wortlos unter ihr Kissen. Dann legte sie den Schal, der hinabgeglitten war, um ihre Schultern. »Warum bist du hier?«
»Gestern Abend habe ich dir erklärt, wir seien noch nicht miteinander fertig, India. Und jetzt möchte ich dieses Gespräch fortsetzen.«
»Vermutlich wirst du mich einem Verhör unterziehen.«
»Wenn du es so nennen willst...«
Das Gesicht unbewegt, hielt sie seinem prüfendem Blick stand.
South setzte sich in einen Ohrensessel. »Wie schaffst du das? Immer wieder verschwindest du gleichsam vor meinen Augen und wirkst genauso unpersönlich wie deine gezeichneten Figuren.«
»Mach dich nicht lächerlich!«, tadelte sie sanft. »Ich
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