Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
hatte eine Lehre abgeschlossen, und viele Söhne des Adelsstandes wurden von Kindheit an in die unterschiedlichsten Belange ihres Anwesens eingeweiht.
Merripen hingegen hatte sich alles – die Viehhaltung, Fragen zu Ackerbau und Forstwesen, den Bau von Gebäuden und selbst die finanzielle Seite mit Löhnen, Gewinnen und Pachtzinsen – ohne Anleitung selbst beigebracht. Doch der Mann schien ein
wahres Naturtalent zu sein. Er verfügte über ein außerordentliches Gedächtnis, scheute sich nicht vor harter, körperlicher Arbeit und konnte auf noch so kleinen Nebensächlichkeiten beharren.
»Sei mal ehrlich«, hatte Leo nach einem besonders trockenen Gespräch über den Ackerbau gesagt. »Du findest das alles doch auch gelegentlich öde, oder? Du musst doch zu Tode gelangweilt sein nach einem einstündigen Gespräch, das sich ausschließlich um den Fruchtwechsel oder die Frage dreht, wie viel Prozent des Ackerlandes mit welchem Getreide bepflanzt werden soll!«
Merripen hatte die Frage eingehend erwogen, als sei es ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass irgendetwas an seiner Arbeit öde sein könnte. »Nicht, wenn es getan werden muss.«
Und just in diesem Moment hatte Leo endlich verstanden. Wenn Merripen ein Ziel vor Augen hatte, war kein Detail zu unbedeutend, keine Aufgabe unter seiner Würde, keine Widrigkeit zu groß. Die unnachgiebige Sturheit, die Leo in der Vergangenheit so gern an ihm verhöhnt hatte, hatte ein ideales Ventil gefunden. Gott oder der Teufel helfe dem, der sich Merripen in den Weg stellte!
Aber Merripen hatte eine Schwäche.
Inzwischen wusste jeder in der Familie von der heftigen und aussichtslosen Verbundenheit zwischen Merripen und Win. Und sie hatten alle erkannt, dass es ihnen nichts als Ärger einbrächte, offen über diese Zuneigung zu reden. Nie zuvor hatte Leo zwei Menschen gesehen, die ihre gegenseitige Anziehungskraft so verzweifelt zu unterdrücken versuchten.
Bis vor kurzem hätte sich Leo ohne zu zögern für Dr. Harrow entschieden, wenn es darum ging, seine Schwester unter die Haube zu bringen. Einen Zigeuner zu heiraten bedeutete in dieser Welt einen gewaltigen sozialen Abstieg. Und in der Londoner Gesellschaft war es üblich, eine Zweckehe einzugehen und die Liebe andernorts zu finden. Für Win stellte dies allerdings keine Alternative dar. Ihr Herz war zu rein, ihre Gefühle zu stark. Und nachdem er mit eigenen Augen angesehen hatte, wie sich seine Schwester abgemüht hatte, gesund zu werden, ohne jemals an Anmut oder Charakterstärke einzubüßen, erachtete es Leo als wahre Schande, dass sie nicht den Ehemann bekam, nach dem sie sich sehnte.
Am dritten Morgen nach ihrer Ankunft in Hampshire machten Amelia und Win einen langen Spaziergang auf verschlungenen Wegen, die alle letztlich wieder nach Ramsay House zurückführten. Es war ein frischer, strahlend blauer Tag, und die Wiesen waren mit solch einem herrlichen Überfluss an weißen Margeriten übersät, dass es auf den ersten Blick aussah, als habe es geschneit.
Amelia, die schon immer gern spazieren gegangen war, konnte sich Wins raschem Tempo mit Leichtigkeit anpassen.
»Ich liebe Stony Cross«, sagte Win und sog begeistert die süße, kühle Luft ein. »Es fühlt sich mehr wie ein Zuhause an als unser früheres Elternhaus, und das, obwohl ich hier nie lange gelebt habe.«
»Ja. Hampshire wohnt etwas ganz Besonderes inne. Wann immer wir aus London zurückkehren, steigt ein echtes Gefühl der Erleichterung in mir
auf.« Amelia nahm ihre Haube ab und ließ sie beim Gehen sanft hin und her baumeln. Sie schien völlig in die Landschaft versunken zu sein, die unzähligen Blumen, die überall blühten, das Klackern und Summen der Insekten, die köstlichen Düfte, die vom sonnengewärmten Gras und der scharfen Brunnenkresse zu ihnen wehten. »Win«, sagte sie schließlich mit nachdenklicher Stimme, »du musst Hampshire nicht verlassen. Das weißt du, oder?«
»Ja.«
»Unsere Familie kann jeglichem Skandal die Stirn bieten. Sieh dir Leo an! Wir haben all seine Eskapaden heil überstanden …«
»In Bezug auf Skandale«, schnitt ihr Win das Wort ab, »habe ich Leo wohl übertroffen.«
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist, meine Liebe.«
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass eine Frau, die ihre Tugend verliert, eine Familie weit mehr ruinieren kann, als wenn ein Mann seine Ehre einbüßt. Das ist ungerecht, aber so ist es nun einmal.«
»Du hast deine Tugend nicht verloren«, entrüstete sich
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