Glut und Asche
von dem er nicht sagen konnte, ob es eine Äußerung des Schmerzes war oder ein bizarrer Gesang aus einer Zeit, die länger zurücklag, als es Menschen auf dieser Welt gab.
»Meruhe?«, fragte er noch einmal.
Auch jetzt reagierte sie nicht, doch etwas anderes geschah: Einer der Vampyre wich plötzlich nahezu im rechten Winkel von dem Weg ab, den er bisher verfolgt hatte - was zu einem noch größeren Chaos auf der überfüllten Straße führte -, und nur kurze Zeit darauf folgten auch der zweite und der dritte Vampyr seinem Beispiel, und nach einigen Augenblicken - die sich in seinem subjektiven Zeitempfinden zu reinen Ewigkeiten dehnten - verschwanden die drei potenziellen Feinde zuerst aus i h rem Sichtfeld, dann erlosch auch das Gefühl ihrer Präsenz in Andrej.
»Was, um alles in der Welt, hast du getan?«, flüsterte Abu Dun ungläubig.
Meruhe reagierte nicht, genau wie zuvor, und Andrej wandte sich mit klopfendem Herzen und einem bangen Gefühl ganz zu ihr um.
Er erschrak. Ihr Gesicht war nicht mehr schwarz, sondern grau, und sie zitterte am ganzen Leib. Was nun über ihre Li p pen kam, war ganz eindeutig ein Stöhnen. Zwei dünne Spe i chelfäden li e fen aus ihren Mundwinkeln und zogen glitzernde Spuren an ihrem Kinn hinab, und ihre Augen waren nicht mehr geschlo s sen, aber Andrej wünschte sich fast, sie wären es, denn es war nur noch das Weiße zu sehen.
»Meruhe?«, fragte er zum dritten Mal.
Wieder bekam er keine Antwort. Er lehnte behutsam das immer noch halb in das Tuch eingeschlagene Götterschwert gegen die Mauer und streckte vorsichtig beide Hände nach ihr aus, und kaum hatte er sie berührt, da stieß Meruhe ein halbla u tes Seufzen aus und brach so abrupt zusammen wie eine Mar i onette, deren Fäden von einem Schwerthieb durchtrennt wu r den. Andrej konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie fallen und sich auf dem harten Pflaster verletzen konnte. Nur einen halben Atemzug später war auch Abu Dun an seiner Seite und half ihm, sie behutsam zu Boden gleiten zu lassen.
»Was ist mit ihr?«, fragte er erschrocken.
Andrej tastete mit den Fingerspitzen nach Meruhes Puls. Ihr Herz raste, und ihre Haut fühlte sich zugleich kalt wie auch heiß und fiebrig an, wie die Haut eines Menschen, der zu Tode e r schöpft und dem endgültigen Zusammenbruch gefährlich nahe war. Was immer sie getan hatte, um die drei Vampyre abzule n ken, musste nahezu ihre gesamte Kraft aufgebraucht haben.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er mit einiger Verspätung und einer Kopfbewegung zum Anfang der Gasse hin. »Pass auf, dass niemand kommt.«
»Offensichtlich geht es dir ja schon wieder besser«, brummte Abu Dun. »Wieder ganz der Alte ... wenigstens was das He r umkommandieren angeht.« Aber er gehorchte trotzdem und nahm am Anfang der Gasse Aufstellung, um sie mit seinen breiten Schultern zu blockieren.
Meruhe hob mit einem abermaligen Seufzen die Augenlider und sah ihn an. Ihr künstliches Auge blieb so kalt wie das Glas, aus dem es gemacht war, doch in ihrem anderen erschien ein Ausdruck von so abgrundtiefem Schmerz, dass es Andrej schier den Atem abschnürte. All seine verwirrenden Gefühle und G e danken von gerade waren dahin. Er wünschte nichts mehr, als ihr einen Teil ihrer geliehenen Kraft zurückgeben zu können, um die schreckliche Leere zu füllen, die er in ihr spürte.
»Das ist sehr nobel von dir, Andrej«, flüsterte Meruhe. »Aber es würde nicht helfen. Und im Moment würde es dich wahrscheinlich töten.« Ihre Lippen bewegten sich kaum, wä h rend sie sprach. Andrej war nicht einmal sicher, ob sie tatsäc h lich sprach oder er ihre Stimme nicht vielmehr in seinen G e danken hörte.
»Wenn ich dir nicht helfe, sterben wir wahrscheinlich alle drei«, sagte er trotzdem.
»Du?« Meruhe verzog die Lippen zu einer Grimasse, von der sie vermutlich nicht einmal selbst glaubte, dass er sie als L ä cheln erkannte, schob mit einiger Mühe seine Hand zur Seite und stemmte sich ächzend auf die Ellbogen. »Bescheidenheit hat noch nie zu deinen großen Fehlern gehört, wie?«
»Er weiß nicht einmal, was das Wort bedeutet«, knurrte Abu Dun.
Meruhe lachte, und etwas ganz und gar Unheimliches g e schah: Andrej konnte spüren, wie sich ihre Kräfte erneuerten. Als hätte sich irgendwo im Nichts eine Pforte geöffnet, aus der neue Energie aus einer unsichtbaren Quelle in sie floss.
Wer war diese Frau? Andrej fröstelte es eisig. Er hatte sich nie eingebildet, Meruhe wirklich zu kennen, aber
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