Glutnester
Mistgabel endgültig beiseite und kratzt sich über beide Arme. Verschwitzte, zupackende, kräftige Ober-und Unterarme. Solche, die stetig ihren Dienst verrichten. Trotz allem. »Neurodermitis. Juckt greislig. A deshalb wär’s besser, an Hof aufz’geben«, erklärt Hubert seine Kratzattacke. In einer Offenheit, die Elsa inzwischen weniger erstaunt als noch vor wenigen Minuten. Genauso wie das verklärte, entrückte Gesicht, als er durch das Kratzen kurzfristig Erleichterung findet. Elsa sieht, wie hässliche rote Striemen auf seinem Fleisch wachsen. Flecke, die er zurückbehalten wird. Entweder er spielt mit ihr, will sie tatsächlich in Sicherheit wiegen, weil er Dreck am Stecken hat. Oder es ist alles genau so, wie er sagt. Eine gewöhnliche Familiengeschichte. Mit Streitereien, Konflikten und unbefriedigten Bedürfnissen. Kein Grund, einen Mord zu begehen. Wenn alle Beteiligten zivilisiert sind. Und es auch bleiben. Doch was, wenn jemand durchdreht? Wenn einer aus der Familie dieses gewöhnliche Leben, das mehr Möglichkeiten zum Verzweifeln bietet als zum Abheben, satt hatte?
Wohin hätte das führen können? Zum Tod Luise
Gasteigers? Einem Tod, der wie ein Unfall aussehen sollte und es auch tat? Zumindest auf den ersten Blick. Was wollte diese Person dadurch, dass sie Luise aus dem Weg schaffte, erreichen?
»Da muss ich um Geduld bitten«, klärt Elsa Hubs auf, als sie gedanklich wieder bei ihm und der Beantwortung seiner Frage nach der Beerdigung ist.
»Wieso eigentlich? D’ Luise is an natürlichen Tod g’storben.«
»Ein zunächst gewöhnlich wirkender Tod kann auf den zweiten Blick ein hinterhältiges Verbrechen sein. Der Schlüssel zum Zimmer Ihrer Schwiegermutter fehlt.« Elsa mustert Hubs provozierend. Sie sieht, dass sich sein faseriger Mund leicht nach unten verzieht. Nicht gut, aber immerhin aufs genaue Hinsehen sichtbar. Elsa nickt, dreht sich achtlos um und geht davon. Als sie am Tor, das hinausführt, angekommen ist, bleibt sie noch mal stehen. Sie dreht sich ein letztes Mal nach Hubs Kratzer um. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen.
»Sie und der Rest der Familie sollten sich überlegen, wo der Schlüssel hin ist und weshalb Ihre Schwiegermutter kurz vorm Tod einen Schock erlitten hat. Das werde ich Sie beim nächsten Mal fragen. Und ich hoffe nicht auf eine ehrliche Antwort. Ich verlange eine.«
»Wieso wissen S’ des so genau? Des mit dem Schock?«, schießt Hubs, nach einer zivilisierten Sekunde, heraus. Mit wenigen holprig hinter sich gebrachten Schritten ist er neben ihr. Packt sie grob bei den Schultern.
Elsa schüttelt seine Hände gründlich ab. Ihr Blick wechselt ins Feindselige. »Weil bei der Toten die Totenstarre sofort einsetzte. Durch extremen Schock oder Gewaltausübung.«
Ohne ein weiteres Wort verlässt sie den Stall. Lässt unzählige Kühe und Hubert Kratzer zurück. Die Tiere stehen friedlich nebeneinander, während Hubs mit weit aufgerissenen, vor sich hin starrenden Augen auf einer Stelle festgewachsen zu sein scheint. Mit ihm, das weiß Elsa, ist sie noch lange nicht fertig.
Als hätten sie sich am frühen Morgen abgesprochen, hält Ben Fürnkreis’ Wagen vor Elsa, kaum, dass sie den Stall verlassen hat.
Erleichtert bleibt sie stehen und steigt, auf Bens Aufforderung hin, ein. Sie lehnt sich in die weichen Polster zurück. Lässt laut die Luft aus den Lungen.
»Puah!«, schnauft sie. Wenig darauf bedacht, was Ben von ihr halten könnte.
Er schaut sie amüsiert und beeindruckt zugleich an. Weil sie sich nicht darum schert, wie sie auf ihn wirkt. »Ich übersetze: Aller Anfang ist schwer. Geht’s mit den Ermittlungen? Oder brauchen Sie Hilfe«, beginnt er, ohne eine förmliche Begrüßung vorauszuschicken.
»Seit wann sind Sie diplomierter Dolmetscher, Ben? Hallo übrigens.«
»Seit ich Sie kenne, Elsa. Ich freu mich ebenfalls, Sie wieder mal zu Gesicht zu bekommen. Und weil dem so ist, schlage ich zur allgemeinen Erheiterung – nach zermürbenden Verhören, nehme ich an – einen Besuch am Chiemsee vor. Zuerst ein Törtchen beim Konditor. Falls Sie so was mögen. Danach ein bisschen Wellen und Schiffe schauen. Und als Krönung einen herzhaften Kuss bei mir zu Hause.«
»Wow. Sie gehen, wie immer, aufs Ganze.« Elsa lacht erheitert auf.
»Wer nicht aufs Ganze geht, hat schon verloren. Und das steht aktuell nicht auf meiner Wunschliste.«
»Ich muss zuvor allerdings den lieben Kollegen Karl Degenwald anrufen. Der wollte mich später hier abholen.«
Weitere Kostenlose Bücher