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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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»Wir sehen viel zu oft die Idee hinter den Dingen und Situationen. Unsere selbst erschaffene Illusions-Wirklichkeit. Und unser Gehirn ist fleißig darum bemüht, das zweidimensionale Bild um eine dritte Dimension zu bereichern.«
    »Und was hat dieser nette Vortrag mit uns zwei Hübschen zu tun?« Bens Stimme strömt eine Wärme aus, die sich wie eine unsichtbare Decke um Elsas Körper legt. Sie lächelt, ohne es sich vorgenommen zu haben. Sie konnte nicht anders. Wenn Ben so sprach, einfühlsam, leise und bedächtig, als hätte er alle Zeit der Welt und niemals Eile, zählte die Bedeutung der Worte weniger als der Klang seiner Stimme.
    »Ich bin Ihre Illusion, Ben. Höchste Zeit, davon abzulassen.«
    »Höchste Zeit, dem förmlichen ›Sie‹ abzuschwören«, findet Ben. Er kommt näher an Elsa heran, legt den Arm um sie und sieht sie begehrlich an. »Gib dich mir hin, und schon löst sich dieses Bild, von dem du sprichst, auf. Ansonsten werde ich, in welcher Dimension auch immer, weiterhin nach dem Glück suchen. Deshalb flehe ich dich an: Erlöse mich, Elsa. Und dich dazu.«

6. Kapitel
    Elsa sitzt im Fond des Taxis. Der Wagen folgt der Straße, die Marquartstein sauber in zwei Hälften teilt. Nach einem letzten klärenden Satz, den sie Ben am Ufer des Chiemsees regelrecht entgegengeschleudert hat, ist sie auf dem Weg nach Hause.
    Mit dem angebotenen Du hat sie keine Probleme. Mit Bens drängender Art schon. Was ist nur in ihn gefahren? Sie findet ihn durchaus attraktiv. Außerdem ist er – bis auf heute zumindest – auf angenehme Art gesprächig und auf intelligente Weise unterhaltsam. Locker drauf, ohne dabei sein Gehirn zu vergessen. Ben ist allemal eine Affäre wert.
    Vor allem seit einer seiner letzten Blicke sich anfühlte, als läge seine Hand auf einem gut ausgesuchten Teil ihres Körpers, und sie habe es nur noch nicht bemerkt. Elsa hatte gefühlt, dass die imaginäre Hand ein leise aufkeimendes Gefühl ohne Namen verdichtete. Es in etwas Konkretes verwandelte. Etwas, zu dem man stand. Doch genau das wollte sie nicht. Bei aller Verschwiegenheit würde irgendetwas nach außen dringen. Dieses Etwas würde sich in die Gehirne Fremder bohren. Und in ihre Münder. Fremde, die nichts mit ihnen zu tun hatten, würden es auf ihren Lippen schmecken. Ihr Geschmack würde Worte gebären. Solche, die sie der kleinen Welt um sie herum als Geschenk darböten. Mit Elsas und Bens Namen vermischt. Worte, die wehtäten, weil es Sätze des Urteils wären.
    All das liegt Elsa schon vorab im Magen. Die Predigten Karl Degenwalds. Michael Horns schiefe Blicke. Und, was weit schlimmer wäre, Annas saftige Kommentare.
    Das Taxi hält vor der Garage ihres Hauses. Gegenüber der Kirche. Elsa reicht dem Fahrer einen Schein, sagt: »Stimmt so!«, und steigt aus. Sie geht auf das Haus zu, in dem sie seit wenigen Monaten mit Anna wohnt. Oben brennt Licht. Anna ist zu Hause. Vermutlich hockt sie vorm PC. In letzter Zeit trieb sie sich hauptsächlich in der Welt von Facebook herum. Parallelleben, nennt sie es. »Keine Scherereien in echt. Aber Spaß wie real. So ist das heute, Mama. Mach kein Drama draus.«
    Sie machte kein Aufhebens drum. Wie sollte sie auch? Anna war 16 und ließ sie jede Sekunde spüren, dass sie gewillt war, über Dinge, die sie betrafen, allein zu entscheiden.
    Elsa setzt müde Schritt vor Schritt und überlegt, was der heutige Tag gebracht hatte. Das Gespräch mit Roland Gasteiger hatte nichts offenbart, was sie nicht schon gewusst oder wenigstens geahnt hatte. Und das Kennenlernen seiner Tochter, und danach das seines Schwiegersohns, hatte auch nichts Spektakuläres offengelegt. Die Kinder der beiden wird sie sich morgen vornehmen. Dafür braucht sie etwas Vorbereitung und einen freien Kopf. Kinder sind anders zu behandeln als Erwachsene. Sie sind feinfühliger. Lesen zwischen den Wörtern. Und registrieren Schwingungen. Kleine leise Hintergedanken.
    Noch wenige Meter bis zur Haustür. Elsa merkt, wie die eigenen Schritte leichter werden. Die Vorahnung eines entspannenden Abends mit einem aufheiternden Buch und einem Glas Wein oder einer Tafel Schokolade beschwingt sie. Sie spürt den Boden kaum noch unter den Füßen. Die Luft fühlt sich mit einem Mal warm an. Frühlingswarm. Pudrige Luft, die sich auf nichts legt, sondern niederrieselt. Wie gesäuberter, feiner Staub. Sie hüllt samtweich jede Pflanze, einzelne Bäume, Häuser und Menschen ein. Um alles mit neuem Sinn und Bedeutung zu bestäuben. Damit

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