Glutnester
Elsa sucht nach ihrem Handy.
»Lassen Sie mal. Ich hab unserem gemeinsamen Kollegen angeboten, mich an seiner statt um Sie zu kümmern. Da ist Abholen inbegriffen. Er schien einverstanden.«
»Schien einverstanden?« Elsa schüttelt den Kopf. Sie kann sich vorstellen, dass dieses kleine Ereignis ihr noch unter die Nase gerieben wird. Doch plötzlich stört es sie nicht länger, sondern amüsiert sie, in Karl Degenwalds Kopf einen Platz einzunehmen. Soll er ruhig den Aufpasser spielen. Das ist immer noch besser, als der Gleichgültigkeit zum Opfer zu fallen.
Ben verbucht ihr Schweigen als Einverständnis, gibt Gas und biegt, nachdem er Kruchenhausen hinter sich gelassen hat, auf die Bundesstraße, Richtung Autobahn.
Es beginnt bereits zu dämmern, als Elsa und Ben am Ufer des Chiemsees stehen. Eine Dämmerung, die sich durch eine greifbare Dichte von Dunst und tief liegenden Wolken kämpft. Milde Schwärze saugt die feuchte Luft auf, die der Regen in die Landschaft getragen hat. Bäume tropfen nass ab. Grasbüschel richten sich langsam wieder auf. Der See hat seine Wellen in den Schlaf getragen und eine ebenmäßig aussehende Fläche wach geküsst. Der fehlende Wind sorgt für dieses friedlich aussehende Wasser in blau schimmernden Grautönen.
»Es ist so friedlich hier«, sagt Elsa leise. Fast bedächtig. Als könne ein einziges unüberlegtes und zu laut ausgesprochenes Wort die Ruhe rings um sie stören. Sie steht dicht neben Ben. Gemeinsam schauen sie aufs Wasser, das in diesem Moment magisch wirkt. Wie eine Verheißung trägen Glücks.
»Wie hat Ihnen die Torte geschmeckt, und wie ist Ihnen die Zuckerinjektion bekommen?«, fragt Ben, leise vor sich hin murmelnd. Er wendet den Blick nicht vom Wasser ab.
»Nussteig, Sahnecreme und in Rum eingelegte Früchte«, raunt Elsa, als sei sie die Verkäuferin hinter der Theke der Konditorei. »Obenauf eine Verzierung in Hufeisenform. Aus Bitterschokolade. Mit Puderzucker darüber. Keine üble Empfehlung«, gibt sie zu. Ben hat vorhin nur einen Espresso genossen. Und hinterher einen Grappa. Kuchen hat er abgelehnt, obwohl Elsa ihn dazu einladen wollte.
»Den Grappa brauch ich zum Mutmachen«, behauptet er, als er ihn sich an die Lippen führte.
»Erzählen Sie keinen Unsinn«, verlangt Elsa streng von ihm. »Sagen Sie lieber, was Sie in Point sichergestellt haben. Im Haus von Veronika Steffel.«
»Ich hab einen Suchtrupp zusammengestellt, um keine Minute zu verlieren. Allerdings haben wir keine Kampfspuren gefunden. Keine Glassplitter von Autorücklichtern. Keine Textilfasern. Keinen zur Waffe zweckentfremdeten Gegenstand. Aber zuhauf Fingerabdrücke. Außerdem ein paar Fußabdrücke.«
»Respektabel!«, lobt Elsa. »Ich muss Sie allerdings zur Bescheidenheit anhalten. Die Fußabdrücke stammen vermutlich von Waldarbeitern, die in der Gegend zu tun hatten.«
»Ich weiß«, gibt Ben zu, versteigt sich dann aber zu einer seiner abschweifenden Überlegungen. »Wer sagt denn, dass es keiner von den Forstarbeitern gewesen sein könnte? Unter Umständen ist einer von den jungen Burschen in den Fall involviert?«
»Ben!« Elsa schaut ihn zurechtweisend an. »Was soll ein junger, gut gebauter Kerl mit einer älteren Frau wie Veronika Steffel am Laufen haben.«
Ben hebt abwehrend die Hände. »Ich denke lediglich laut nach. Nicht mehr und nicht weniger. Und es muss ja nicht um Sex gegangen sein. Wir haben übrigens alle Fuß- und Reifenspuren im Freien als Foto und Gipsabdruck festgehalten. Aber mit der Auswertung sind wir noch nicht so weit. Wir brauchen ein bisschen Zeit.«
»Und was ist mit dem Ohrabdruck, den Degenwald im oberen Stock entdeckt hatte?«, bohrt Elsa nach.
»Haben wir ebenfalls sichergestellt. Dann müssen wir nur noch Vergleiche anstellen. Dann wissen wir mehr.«
»Tja, dann werden wir mal darangehen, Finger-, Fuß- und Ohrabdrücke abzunehmen, um sie mit denen in Veronika Steffels Haus zu vergleichen.«
»Tun Sie das, liebste Elsa. Während ich dem Rätsel auf der Spur bin, weshalb Sie einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, seit Sie meinen Weg gekreuzt haben. Ich vermute inzwischen, dass irgendwas an Ihnen eine Seite in meinem emotionalen Lexikon aufschlägt. Eine, die ich mir nur zu gerne wieder einmal ansehen würde.«
»Blöd nur, dass die Welt nicht unbedingt das ist, was wir in ihr sehen oder wofür wir sie halten, Ben.« Elsa spürt, wie sich ihr innerer Horizont weitete, obwohl ihre Worte auf das Gegenteil schließen lassen.
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