Glutnester
Füße korrekt nebeneinander und fixiert kurz ihre Schuhspitzen. Als sie hochblickt, spielt sie mit den Fingern der einen Hand am Handballen der anderen. Mit einem Lolitalächeln schaut sie Elsa an. »Ich weiß nicht. Ist deine Aufgabe, das rauszukriegen. Alles, was ich weiß, hab ich gesagt. Kann ich jetzt zu meiner Mutter? Ich hab ziemliche Lust auf ein anständiges Mittagessen. Ich glaube, es gibt Gulasch.« Marissa schaut Elsa eindringlich an. Dann spricht sie weiter. Wenige Worte unspektakulären Inhalts. Die Betonung jedoch wirkt wie ein klein angelegter Angriff. »Fettes, triefendes Fleisch mit anständiger Sauce.«
Elsa zuckt unmerklich zusammen. Marissas Fleischbeschreibung hat etwas Derbes, Vulgäres. Einen Moment weiß sie nicht, wohin mit ihrer Abneigung. »Ja, geh nur. Danke«, sagt sie lediglich und sieht Marissas Rücken hinterher. Wie er sich behände durch den Türspalt schlängelt. Gerader Gang. Gerade Wirbelsäule. Aufrecht geht sie des Weges. Elsa fragt sich, ob das Mädchen die ganze Zeit mit ihr gespielt hat, oder ob sie tatsächlich etwas weiß. Falls sie Informationen hat, die sie nicht preisgibt, versteht sie es zumindest meisterlich, den Druck, den dieses Wissen auf sie ausübt, zu kompensieren.
Fürnkreis steht vor Elsas Haustür. Eine einzelne weiße Rose zwischen den Zähnen. Unschuldig in der Farbe, aber nicht in der Bedeutung. Die Rose sucht ihre Rechtfertigung in einem Auftritt vor einer Tür. Fürnkreis entscheidet sich zur Tat und klingelt. Fast augenblicklich wird ihm geöffnet. Anna steht Kaugummi kauend und mit zwanglos interessiertem Ausdruck da.
»Hi!«, sagt sie, während sie kaut und schließlich ein Kichern unterdrückt. Dann fasst sie sich an den Kopf. Eine Geste des Erinnerns. »Sind Sie nicht der von der Spurentechnik? Ben Dingsbums?«
»Ben Fürnkreis«, stellt Ben richtig, nimmt die Rose aus dem Mund und hält sie sich vor die Brust. »Ist deine Mutter da?«
»Fehlanzeige. Sie ist vermutlich noch an der Marissa Kratzer dran. Warum haben Sie nicht angerufen? Das macht man so, wenn man nicht unnötig wo erscheinen will.«
»Hab ich versäumt.« Ben reicht Anna die Rose. »Kannst du der beim Überleben helfen?«
»Klar. Vasen haben wir. Nur noch ’ne Frage. Was wird das hier? Eine Anmache? Auf gut Wetter spekulieren? Müssen Sie einen Fehler wiedergutmachen? Irgendwas in der Art?«
»Such dir was aus.«
»Anmache wär prima. Meine Mutter ist frisch geschieden. Das wissen Sie. Was Sie vielleicht nicht wissen: Ich glaub, einer, der hinter ihr her ist, täte ihr gut.«
»Danke für den Tipp«, grinst Ben. Er verbeugt sich mit ausholender Armbewegung. Wie ein Galan aus einem französischen Mantel-und Degenfilm. Mit einem Gesicht, dem die Freude über Annas Worte deutlich anzusehen ist.
In Kruchenhausen sitzt Elsa in diesen Minuten Marissas Schwester gegenüber. Gerry, eine nicht minder hübsche 10-Jährige. Mit hoher Stirn, dunklen kurzen Haaren, die so geschnitten sind, dass man eher an einen Jungen als an ein Mädchen denken würde, undefinierbarfarbenen Augen und Sommersprossen. Gerrys Äußeres hat etwas erfrischend Unaufgeregtes an sich. Etwas Unbenutztes, Sauberes. Sie wird eine schöne, vermutlich in kein optisches Raster passende Frau werden, glaubt Elsa und nimmt diesen Verdacht mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Als ginge es darum, zwischen Marissa, der Sirene, und Gerry, dem Mädchen im Hintergrund, einen Ausgleich zu schaffen. Zumindest einen sehbaren.
Auf das Verhör mit Gerry hat Elsa sich nicht mehr speziell vorbereitet. Hat alles über Autismus gelesen, was sie noch auf die Schnelle im Internet recherchieren konnte.
Auch wenn sie nicht davon ausgehen kann, von Gerry einen Hinweis auf den Tod Luise Gasteigers zu bekommen, sie will mit ihr sprechen. Einfach ein wenig Zeit mit ihr verbringen. Worum es ihr geht, sind Stimmungen. Sich ein Bild der Familie machen. Ausloten, wozu jeder Einzelne fähig ist. Herausarbeiten, wie die Kräfte verteilt sind. Wer was zu sagen hat. Bei wem sich ein Mangel an Selbstbewusstsein zeigt. Elsa weiß, wie wichtig diese Arbeit ist. Wenig Ausbeute auf den ersten Blick. Aber mitunter der entscheidende Hinweis, um das Puzzle irgendwann zu Ende zu bringen.
Bevor das Gespräch beginnt, klingelt Elsas Handy. Ben ist am Apparat. Er verliert kein Wort über den Kuss. »Wir haben die entnommenen Ohrabdrücke mit dem Abdruck in Veronika Steffels Haus verglichen. Den am Fenster. Der stammt von Sepp Gnadls Ohr«, berichtet
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