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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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vergessen ist. Wenn sie an Maria Kratzer denkt, dieses bildhübsche Mädchen, fühlt sie, dass eine Einsicht, die keinen Namen trägt, in ihr Gestalt annimmt. Doch bevor sie das innere Bild zu fassen kriegt, löst es sich wieder auf. Und die Frage, die mit der Einsicht verbunden ist, fehlt ohnehin. Das Gefühl bezüglich Maria Kratzer ist an eines der Unabwendbarkeit geknüpft. Warum bloß?
    Elsa blickt nach draußen. Ein dunstiger Himmel und einige Wolken in Beige-und Grautönen als Abwechslung dazwischen. Vorgetäuschter Friede liegt in der Luft. Dazu milder Wind. Unspektakuläres Wetter.
    Elsa schickt sich an aufzustehen, als es klopft. Sie sagt: »Komm rein!«, und setzt sich wieder. Die Tür geht quietschend auf. Maria steht im Türrahmen.
    »Hallo, Marissa!«, grüßt Elsa. Sie weiß, wie wichtig es ist, das Mädchen mit dem selbst gewählten Namen anzusprechen. Sie deutet auf den Stuhl gegenüber. Den vorm Bett. In Luise Gasteigers Totenzimmer.
    Marissa setzt sich richtig hin. Nicht nur auf die Kante, so als müsse sie gleich wieder weg. Sondern auf die gesamte Sitzfläche. Dann schlägt sie die Beine übereinander.
    »Was hältst du von Aufrichtigkeit, Marissa?«, will Elsa wissen.
    Marissa antwortet sofort. »Viel«, meint sie. »Ohne Aufrichtigkeit gibt es keine Zukunft. Keine langfristige zumindest.«
    »Gut festgestellt. Du scheinst ein kluges Mädchen zu sein. Darf ich Du zu dir sagen?«
    »Wir haben beide Titten. Da steht uns die gleiche Anrede zu, find ich.«
    Elsa hält Marissa die Hand hin. Das Mädchen imponiert ihr. »Ich bin die Elsa«, sagt sie.
     
    Das Gespräch mit Marissa dauert länger, als Elsa geglaubt hat. Das Mädchen spielt mit ihr, wie sie es nicht zu träumen gewagt hätte. Sie schlüpft mal in die eine, dann in die andere Rolle. Kind. Frau. Dann wieder Kind. Um danach wieder die erwachsene Frau herauszukehren.
    »Meine Oma war schwach. Sie hatte nicht den Mumm, sich von Opa zu trennen.«
    »Wie kommst du darauf, dass sie das überhaupt wollte?«
    »Hab ich mitgekriegt. Vielleicht hat sie überhaupt nur Diabetes bekommen, weil sie unter diesem Schwachsinn litt. Damit sie sich zurückziehen konnte und jeder sich sorgte.«
    »Lass mich raten. Du willst später Psychologin werden.«
    »Niete!«, winkt Marissa ab. »Ich heirate reich und zeig allen meine Grenzen. Dann gilt mein Gesetz.«
    Elsa schweigt. Sie weiß, dass Marissa jedes Wort ernst meint. Viel zu ernst. Woher hat sie bloß diese Abgebrühtheit?
    »Aber dafür muss ich raus aus diesem Kaff. Vielleicht geh ich nach Amerika. Wenn das nicht klappt, London. Oder Paris.«
    »Deine Großmutter hat kurz vor ihrem Tod einen Schock erlitten. Das hat der Rechtsmediziner festgestellt. Ein Rechtsmediziner ist dafür zuständig, dass …«
    »Ich weiß, was ein Rechtsmediziner macht. Leichen aufschneiden. Organe sezieren. Ich bin informiert. Hab mal ein Buch darüber gelesen. Die spektakulärsten Fälle der Rechtsmedizin.«
    »Wow! Ist das was für dein Alter?« Elsa ist ehrlich überrascht.
    »Ich weiß nicht, was diesen Schock ausgelöst hat«, übergeht Marissa Elsas Anmerkung bezüglich ihres Alters. Sie spricht rasch weiter und baumelt dabei mit den Beinen. Als sei sie zu klein für den Stuhl. Obwohl sie’s nicht ist. »Vielleicht ist sie nicht an ihre Kohlenhydrate gekommen, weil sie ins Zimmer eingeschlossen wurde. Weggesperrt.«
    »Schlüssiger Gedanke, Marissa. Aber dann hätte man Spuren an Tür oder Fenstern finden müssen. Sie hätte doch versucht, sich zu befreien.«
    »Nicht, wenn sie bald ohnmächtig geworden ist. Oder sich längst ergeben hatte.«
    »Das stimmt allerdings.« Elsa zögert. »Nur, weshalb hätte jemand deine Oma einsperren sollen?«
    »Um sie auszuschalten.« Marissas Gesicht, während sie das ausspricht, wirkt derart unbeteiligt, dass es Elsa eiskalt den Rücken hinunterläuft.
    »Oma hat gewusst, wie die Dinge hier stehen. Das hat sie immer getan. Aber sie hat geschwiegen. Bloß, das wollte sie zuletzt nicht mehr. Sie wollte alles loswerden. Das hat sie mir am Tag vor ihrem Tod gesagt. Ganz leise hat sie mit mir gesprochen. ›Ich muss den Knödel aus mir rauspressen, Maria!‹ Das hat sie gesagt. Sie hat mich immer Maria genannt. Sie mochte Marissa nicht.«
    Elsa beugt sich näher zu Marissa hinüber. Wie eine Komplizin. »Erzähl mir, was deine Oma loswerden wollte. Es könnte sehr, sehr wichtig sein.«
    Marissa hört auf, mit den Beinen zu wippen und nimmt das rechte vom linken herunter. Sie stellt ihre

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