Glutnester
Mundpartie. Helga Kratzer sieht gezeichnet aus. Als habe sie gerade erst vom Tod ihrer Mutter erfahren und noch keinen anderen Weg gefunden, mit der Nachricht umzugehen, als sich zu grämen. »I hob an Brief meiner Mutter g’funden. Nach ihrm Tod. Zwischen allerlei unsinnigem Zeig. Darin is g’standen, dass mei Vater immer wieder mit der Veronika …, mit meiner Tante …« Helga stockt. Sie hat die Augen vor Wut und Unglauben plötzlich weit aufgerissen. Man sieht ihr an, dass sie die Wahrheit immer noch nicht fassen kann. Elsa merkt, wie schwer ihr das Weitersprechen fällt. Trotzdem drängt sie sie mit einer Geste dazu. »Wia lang und wia ausufernd is ›immer wieder‹? Wos steckt dahinter, hinter ›immer wieder‹? Kimmt da womöglich a ganzer Rattenschwanz an Neuigkeiten z’dog? Und wui oane wia i den Rattenschwanz überhaupt z’packen kriang? Des is ma nimmer ausm Schädel gangen. I hob mit ihr reden miassn. I hob endlich ois wissen wolln.« Helga entkommt ein leises Schluchzen.
Elsa starrt die Frau mit den tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen ungläubig an. »Veronika Steffel war vielleicht Ihre Mutter?«, wiederholt sie. Mit der Mitteilung hat sie am allerwenigsten gerechnet.
»Sie hot mir net drauf g’antwortet. Stattdessen hot s’ mi aussig’schmissen. Richtig wütend is g’worden. Tierisch wütend. So hob i s’ no nie g’sehen.« Helga Kratzer kann ihre Gefühle nicht länger zurückdrängen. Tränen rinnen ihr das Gesicht hinunter. Heiße, wütende, enttäuschte Tränen. »Wissen ’S, wia des is, wemma von oam Dog aufn nächsten nimmer woaß, wos stimmt und wos net? Wemma si nimmer sicher sei ko, wer ma überhaupt is?«
Elsa legt für einen kurzen Moment ihre Hand auf Helgas Schulter. Tröstend. »Viel zu gut, Frau Kratzer«, entgegnet sie.
In Elsa regt sich ein Gefühl von Solidarität. Sie unterdrückt es gekonnt. Das hat sie lange geübt. Sich nicht auf die Emotionen der zu verhörenden Personen einzulassen. Neutral bleiben. Abstand halten. Denn nur mit Abstand kann man auf etwas blicken, es analysieren und die nötigen Schritte einleiten. Sie wird Helga Kratzer beikommen. Einer Frau, die sie, in ihrer momentanen Situation, nur zu gut versteht, deren innere Auswüchse sie aber aufdecken muss. Helga Kratzer könnte Veronika Steffel, ihre angenommene Mutter, auf dem Gewissen haben. Und sie wird es herausfinden.
Das Wild – die Beute – ist im Wagen verstaut. Es war ganz einfach. Er hat den Kombi abgebremst, am Straßenrand angehalten und breit gelächelt. Sie ist eingestiegen. Hinter dem Gitter hockt sie nun. Sie hat endlich davon abgelassen, zu jammern. Er hat sie darum gebeten. Freundlich hat er gesagt, sie soll aufhören, seine Ohren zu strapazieren. Sicher hat sie ihm die Ernsthaftigkeit des Anliegens angesehen. Er bittet nicht zweimal. Ein Plan hat sich in seiner Seele festgeschrieben. Dieser Plan bleibt nicht länger im Vagen. Er nimmt mit jedem Kilometer, den er fährt, mehr und mehr Gestalt an. Kleinmut. Er verwirft das Wort sofort. Damit ist Schluss. Die Lust ist niemandes Besitz. Doch das stimmt nicht, entscheidet er. Die Lust wird an seiner Seite sein. Sein kostbarstes Gut. Er sagt zu ihr: »Keine Angst. Ich bring dich nach Hause. Aber vorher machen wir einen kurzen Abstecher.«
»Wohin?«, will sie wissen.
Das junge Ding, denkt er. Weiß von gar nichts. »Keine Ahnung. Irgendwohin. Wo du noch nicht warst und ich auch nicht. Vielleicht ins Moor am Chiemsee. Da ist es schön. Da sind herrliche Birken. Hinter denen kann man sich verstecken. Ganz für sich sein.«
»Schön?« Sie wirft ihm die Worte regelrecht in den Nacken. »Was soll da schön sein? Da ist es feucht und schmierig.«
Er schweigt. Soll er einem jungen Ding das Leben erklären? Die Schönheit des Waldes. Die der sanften Dunkelheit. Das Alleinsein im Moor. Er sehnt sich danach. Das Moor schluckt das Dumpfe der Schritte. Macht alles weich. Ganz weich. Da kann ein bisschen Härte als Ausgleich nicht schaden. Dafür wird er sorgen. Er will sie hart rannehmen. All die Jahre hat er genau das in Gedanken getan. Immer nur in Gedanken. Jetzt ist es Zeit, ernst zu machen. Seine Lenden verlangen es. Das steife Glied. Sein Körper gibt vor, was zu tun ist. Der zwingende Zauber der Situation trommelt das Tempo. Er wird den Bedürfnissen seines Körpers folgen. Nicht länger lediglich billigen und zügeln. Er will vollständig, restlos ausgelebte Lust spüren. Will zügellos sein. Auch wenn sie Nein sagt.
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