Glutnester
Degenwald noch nie etwas anfangen können. Er liebt es gemäßigt. Schwärmt für Island, Grönland, Eis und einen stahlblauen Himmel, ruhig und mit Wolken angereichert. Er steuert seinen Audi an, öffnet die Tür, steigt ein und will schon losfahren. Doch er entscheidet sich um, steigt wieder aus, hält die Nase hoch, als wittere er etwas, und entscheidet sich zu einem kurzen Spaziergang unter Schatten spendenden Bäumen.
Während Karl Degenwald an der nächsten Straßenecke abbiegt, setzt sich ein Gedanke in seinem Gehirn fest. Gerd Speckbacher, Journalist einer kleinen Zeitung, ist vermutlich der Sohn von Veronika Steffel. Vielleicht hat der verlorene Sohn kurz vorm Tod der Mutter noch mit ihr sprechen können. Einer Frau, nach der er sich offenbar sehr gesehnt hat. Oder die er zumindest zur Rede stellen wollte. Als Erstes wird er gefragt haben: ›Wer ist mein Vater, Mutter?‹ Vielleicht kam irgendwann der Hass dazu. Zur Neugierde. Als Gerd Speckbacher hörte, was seine Mutter ihm zu sagen hatte. Oder weiter vorhatte, zu verschweigen. Das längst überfällige Motiv, das jemand brauchte, um Veronika Steffel auf genau die Art und Weise umzubringen, auf die man ihr nach dem Leben getrachtet hatte, tut sich vor Degenwald auf. Er sieht verschiedene Bilder vor sich, die allesamt etwas Vernünftiges, Vorstellbares ergeben. Er kommt, wie er es auch dreht und wendet, in jedem Fall auf ein Motiv.
Veronika Steffel ist nicht spontan – im Affekt – umgebracht worden. Sondern wohlüberlegt, geplant. Deshalb handelt es sich nicht um Totschlag, sondern in jedem Fall um Mord.
14. Kapitel
Elsa parkt vor der Kriminalpolizeiinspektion Traunstein und wirft einen Blick auf die Steinsäulen, die angeblich von Strafgefangenen behauen worden waren. Neben sich entdeckt sie Degenwalds Audi. Sie unterdrückt den kindischen Impuls, die Sekunden, bis sie ihren Kollegen sehen wird und sprechen kann, abzukürzen, indem sie ihn, obwohl nur noch wenige Schritte entfernt, anruft. Sie brennt plötzlich darauf, ihm mitzuteilen, dass sie sich den Brief hat aushändigen lassen, in dem Luise Gasteiger über die vermutete länger andauernde Affäre ihres Mannes mit ihrer Schwester schreibt. Das Seltsame an dem Brief ist, dass er keine Anrede hatte, in keinem Umschlag steckte und folglich nie abgeschickt worden war. Sonst hätte er sich auch nicht im Besitz Luise Gasteigers befinden können. Diesen Brief zu schreiben, vermutet Elsa, war Luises Art, mit der bedrückenden Situation des angenommenen Seitensprungs ihres Mannes umzugehen. Therapeutisches Schreiben. Als Elsa, gegen ihren Wagen gelehnt, erneut die Schrift der Toten untersucht – sie ist seit jeher stärker mit der Schriftpsychologie als der Grafologie betraut, die Grafologie war keine erfahrungswissenschaftlich fundierte Methode, die Schriftpsychologie behauptete es zumindest zu sein –, stellt sie fest, dass es sich bei Luise um einen unsicheren, introvertierten Menschen gehandelt haben muss. Die Richtungen im Schreibbild, etwa nach rechts oder links gerichtet, nach oben oder unten orientiert, dienten meist als Projektionsflächen – und ihr als Orientierungshilfe. Rechts symbolisierte die Zukunft und das Du, links eher die Vergangenheit und das Ich. Die Oberzone einer Handschrift wiederum war eine Projektionsfläche für den geistigen Bereich. Die Unterzone stand dagegen für das Vitale und Materielle. Psychodiagnostik aufgrund grafischer Komplexe. Elsa hatte vor vielen Jahren eine Ausbildung im Bereich Grafologie und Schriftpsychologie begonnen und abgeschlossen, weil sie neugierig darauf war, was die Handschrift eines Menschen tatsächlich über ihn verriet. Die Grundzüge der Persönlichkeitsstruktur waren gut sichtbar und analysierbar. Sie hatte ganze Wochenenden damit verbracht, die Schriftstücke von Persönlichkeiten zu lesen und zu deuten. Später hatte sie sich an den hastig hingekritzelten Worten von Tatverdächtigen ausgetobt.
Der Brief Luise Gasteigers enthielt einen anfänglichen Rhythmus, aber keine Einheitlichkeit im Aufbau. Druckstärke und Schriftlage wechselten mehrmals. Oft sogar absatzweise. Als habe Luise sich immer wieder unterbrechen beziehungsweise aufraffen müssen, um dann aus einem veränderten inneren Ungleichgewicht heraus neu nach Worten zu ringen. Mit dem drängenden Ziel, die eigene Seele zu entlasten. Den Druck wenigstens durch anklagende Worte loszuwerden, vermutet Elsa. Sie liest ein einziges, warnendes Notsignal aus Luises Brief heraus. Hilfe!
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