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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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Und nochmals: Helft mir! Auch wenn die grafologische Arbeit umstritten war, Elsa bot sie ein gutes zusätzliches Instrument, um die Seele eines Menschen auszuleuchten. Im Laufe ihrer Tätigkeit war sie so oft mit Introversion, Extroversion und auch immer wieder mit völliger Verhinderung oder Verbiegung eines Charakters konfrontiert worden. Inzwischen hatte sie sich ein eigenes Gerüst des Erkennens gebaut. Dieses Gerüst erlaubte es ihr, über viele Wege in die Dynamik, in mögliche Gründe für Antrieb und Aufgeben eines Menschen vorzudringen. Die Handschrift war eine Möglichkeit, diesen Dingen nachzuspüren. Doch in letzter Zeit stellte Elsa fest, dass sich die Parameter, an denen sie sich bisher festgehalten hatte, in einer Art Auflösungsprozess befanden. Neue Regeln tauchten auf. Meist solche, die gar keine mehr waren. Schriftarten gaben nur noch unzulängliche Hinweise. Die Analyse des Charakters eines Tatverdächtigen vollführte Sprünge wie ein junges Reh auf einer Wiese. Was mochte das alles bedeuten? Tiefenpsychologische Merkmale traten für Elsa jetzt mehr in den Vordergrund. Doch das machte es nicht unbedingt einfacher. Schließlich hatte sie – als Ermittlerin – kaum Zeit, in die tiefsten Tiefen, ins Frühkindliche oder sogar in die Traumphasen der Menschen vorzudringen, denen sie auf der Spur war. Den Anspruch, genau das leisten zu können, spürte sie jedoch immer mehr in sich brennen.
    Sie erinnert sich unvermittelt an Carl Gustav Jung, an Bruno Bettelheim und Viktor Frankl, auch an einige englische, amerikanische und indische Abhandlungen zum Thema philosophische Psychologie. Animus und Anima. Die weiblichen und männlichen Seiten. Traumdeutung. Das Verborgene, Unbewusste. Das Pochen von belastenden Erlebnissen und die drängende Reaktion darauf, die allzu oft in ein Verbrechen mündete.
    Luises Schrift drückte etwas Dranghaftes und zugleich Depressives aus. Darüber will Elsa sich so rasch wie möglich mit Karl Degenwald austauschen. Will hören, was er dazu sagt. Was das Abklopfen seiner Erfahrungen dazu beitragen kann, die dringendsten Fragen zu beantworten. Elsa verlagert das Gewicht ihres Körpers nach vorn, löst ihren Rücken von Blech und Fenster ihres Wagens und steuert – über das hübsche Stöckelpflaster – den Eingang des Präsidiums an. Während sie die Eingangsschleuse und anschließend die Treppe des Gebäudes Stufe um Stufe einnimmt, überlegt sie, dass sie mit Degenwald genauso dringend über Helga Kratzer und deren Vermutung, Veronika Steffel könne ihre Mutter gewesen sein, reden muss. Ein unwahrscheinlicher, aber kein unmöglicher Gedanke. Vielleicht hatte Veronika, nachdem sie ihr erstes Kind zur Adoption freigegeben hatte, später noch einmal entbunden? Hatte das zweite Kind ihrer Schwester und deren Mann überlassen. Um das Neugeborene im Kreis der Familie aufwachsen zu sehen. Nur, weshalb hätte eine Frau wie Veronika Steffel so etwas getan? Und wieso hätte Luise Gasteiger das Kind annehmen sollen? Doch nur, wenn sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Höchstens dann. Im Laufe ihrer Arbeit als Kriminalpsychologin hatte Elsa so viel Unverständliches gesehen und gehört, dass sie grundsätzlich nichts ausschloss. Vielleicht hatte Luise Gasteiger tatsächlich keine Kinder bekommen können und sich deshalb sogar über das ›Geschenk‹ ihrer Schwester gefreut. Oder sie sogar gebeten, an ihrer statt ein Kind zu bekommen. Mit ihrem Mann Roland? Eine Wiedergutmachung und ein heimlicher Triumph der Ehefrau. Der Frau, die am Ende doch alle Fäden in der Hand hielt?
    Mit jemandem von der Spurensicherung muss sie ebenfalls Kontakt aufnehmen, nimmt Elsa sich als Nächstes vor. Sie hatte einem Kollegen von Ben den Slip ausgehändigt, den sie vor ihrer Haustür gefunden hatte. Mit der Bitte, ihn möglichst rasch zu untersuchen. Auch wenn er nichts mit dem Fall Gasteiger/Steffel zu tun hatte. Sondern lediglich mit ihr. Ein Slip ohne dazugehörigen Fall. Vielleicht gab es schon Neuigkeiten. Elsa hastet die letzten Stufen der Treppe hinauf und betritt ihr Büro. Dort stellt sie sich ans weit geöffnete Fenster und wirft einen Blick auf Karl Degenwalds verkleinerte, aufs Präsidium zuhastende Gestalt. Er überquert die Straße, passiert mit einem kurzen registrierenden Blick ihren Golf und verschwindet aus ihrem Radius. Jetzt kommt er die Treppe hinauf, um dann, mit leisem Geräusch, sein Büro zu betreten, weiß Elsa. Nach einer Weile hört sie ihn eintreten und ohne

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