Glutnester
kommende Nacht bei Ihnen verbringen dürfte.«
Elsas Blick springt Degenwald regelrecht an. Darin steht ›Wie bitte?‹ geschrieben. Ein einziger fragender Aufschrei.
»Vermutlich besteht keine Gefahr«, ergänzt Degenwald rasch sein Vorhaben. »Aber ich würde lieber auf Nummer sicher gehen. Was diesen Brief, den Sie bekommen haben, anbelangt. Und Ihre Angst letzte Nacht.«
Elsa starrt Degenwald noch immer irritiert an. Dann murmelt sie: »Einverstanden.«
12. Kapitel
Anna und Nadine sitzen einträchtig am Ufer der Ache. Die Sonne wärmt ihre Nackenpartien. Vögel zwitschern. Es ist ruhig. Fast friedlich. Nur das Plätschern des Wassers ist zu hören. Um sich herum haben die Mädchen diverse Bücher und Obst ausgebreitet. Ein kleines Häuflein Novellen. Gottfried Kellers ›Kleider machen Leute‹. Paul Heyses ›L’arrabiata‹. Und ›Aquis submersus‹ von Theodor Storm. Dekoriert wird das Ganze von roten Äpfeln und grüngelben Bananen. Es sieht aus, als würden die Mädchen jeden Moment mit gegenseitigem Abfragen und Vorlesen beginnen. Und dazwischen Obst essen. Doch das ist nichts als ein frommer Wunsch. Ein Gedanke, der ihnen gekommen ist, den sie aber schnell wieder verworfen haben. Zugunsten des süßen Lebens. Am Fluss abhängen, sonst nichts.
»Wieso bist du eigentlich derart neidisch auf die Marissa?«, traut Anna sich nach einer Weile in die träge Stimmung hinein zu fragen. Anstatt in den Büchern zu blättern, beschäftigt sie sich lieber mit dem Charakter ihrer neuen Freundin. Freundschaft ist das, was für Anna zurzeit am meisten zählt. Echte Freundschaft. In dem Zusammenhang nimmt sie, wie bei allem anderen auch, kein Blatt vor den Mund. Anna kommt zum Punkt. Alles andere käme ihr schändlich, verlogen und idiotisch vor.
»Wie kommst du auf so einen Schwachsinn? Ich und neidisch? Auf dieses Baby, das auf erwachsen macht?«, spuckt Nadine ihre Antwort aus. Sätze, bitter wie Galle. Wörter, die laut, kraftvoll, aber trotzdem nicht ganz ehrlich wirken.
»Ich hab’s an deinem Blick gesehen. Als ich die Marissa letztens auf dem Schulhof wohlwollend beurteilt hab.« Anna merkt, dass Nadine sich innerlich von ihr abzuwenden beginnt. Ganz schnell geht das. Kein gutes Zeichen, spürt Anna. Vor allem, wenn man dabei war, eine ernst zu nehmende Freundschaft aufzubauen. Eine längerfristige.
Anna entscheidet sich, einem Impuls folgend, von etwas anderem anzufangen. Sie deutet auf Nadines technischen Fuhrpark. »Woher hast du eigentlich dieses ganze Zeug? Mini-Notebook, iPod, Mofa. Sind deine Eltern wohlhabend oder hast du irgendwo einen Schatz ausgehoben?«
»Schon wieder Schwachsinn«, muckt Nadine auf. Dabei hat Anna es diesmal gut gemeint. Doch Nadine scheint genug zu haben. Genug von allem, was mit Anna zu tun hat. Weshalb auch immer. »Ich hab halt gespart. Was dagegen?«, erklärt sie trotzig.
»Beruhig dich. War nur ’ne Feststellung. Nichts, was dich in Verzweiflung stürzen soll.« Anna rollt genervt mit den Augen. Nadine ist heute derart empfindlich, dass sie ins Grübeln gerät, wieso überhaupt. Was ist nur in das Mädchen aus der Parallelklasse gefahren? Hat Nadine etwa Probleme zu Hause? Solche, die sie vor ihr verbirgt? Oder hat sie die Menstruation bekommen und Bauchschmerzen? Vielleicht handelt es sich auch einfach nur um Frust. Gewöhnlichen Frust, der nicht immer einen Grund brauchte, um in einem wach zu werden.
»Behalt deine Feststellungen in Zukunft für dich. Ich hab keine Lust auf so was. Du willst doch mit mir befreundet sein, oder?«
»Wenn sich’s auszahlt, schon!« Jetzt wirkt Anna plötzlich abweisend. »Aber bestimmt nicht um jeden Preis«, meint sie schließlich verunsichert.
»Dann lass es halt.« Nadine springt auf, als habe sie jemand aufgezogen. Sie sammelt hastig ihre Sachen ein. Den Pullover, den sie zuvor ausgezogen hatte und der zwischen ihr und Anna liegt, ihre Bücher, zwei Äpfel. Mitsamt Gepäck schmeißt sie sich aufs Mofa. Sie startet, gibt ordentlich Gas und fährt, von einigen Abgaswölkchen flankiert, davon. Ohne sich ordentlich zu verabschieden oder sich noch mal nach Anna umzudrehen.
»Verdammte Schnepfe!«, schimpft die. »Und wie komm ich jetzt heim?« Nadines Rücken wird kleiner und kleiner. Ein grauer Punkt auf dem ausgeblichenen taubenfarbenen Asphalt der Straße. »Scheiß Gegend. Scheiß Leute. Scheiß Leben.« Anna ist aufgestanden, packt, wie Nadine zuvor, ihren Rucksack und steuert mit ausgestrecktem Daumen und raschen
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