Glutnester
Selbst wenn sie wild um sich schlägt. Hinterher, wenn sie bemerkt, dass sie gegen seine Kraft hilflos ist, wird sie ihn anflehen und betteln, er möge endlich aufhören. Doch wenn sie versucht, sich ihm zu entziehen, dann vor allem, wird er weitermachen. Dann erst recht.
Degenwald sitzt im Büro und telefoniert. Seit über einer Stunde. Den Hörer zwischen Schulter und Gesicht geklemmt, hört er einer näselnden Frauenstimme zu. Was an sein Ohr dringt, ist: geht leider nicht, braucht Zeit, muss ich nachschauen, liegt lange zurück, wäre besser, Sie kämen persönlich vorbei, möchte Ihren Dienstausweis sehen, wenn jeder am Telefon solche Fragen stellen würde, und so weiter und so fort. Hauptkommissar Degenwald reicht es langsam. Er findet, er hat lange genug geradezu stoische Ruhe bewiesen und dieser schrecklich komplizierten Frau ein Gefühl von Wichtigkeit zugestanden.
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, unterbricht er deren wenig hilfreichen Redestrom. »Entweder Sie geben mir sofort die Informationen, um die ich freundlich gebeten habe und die ich dringend brauche, oder es gibt Probleme. Auf Ihrer Seite, wohlgemerkt.« Er setzt alles auf eine Karte. Druck hilft manchmal enorm weiter. Zumindest in Fällen wie diesen. Wenn man ein inkompetentes Gegenüber hat.
»Also gut«, hört er am anderen Ende eine plötzlich zerknirschte Stimme. »Das Kind wurde zuerst, wie üblich, in einem Heim untergebracht und später von Pflegeeltern aufgenommen. Ein etwas älteres Paar, das sich lange vergeblich um ein Kind bemüht hatte. Gut situiert. Alles in Ordnung. Eine Chance für den Buben.«
»Name und Adresse«, verlangt Degenwald, der keine Lust hat, auch nur ein einziges weiteres Wort an diese Frau zu verschwenden. »Am besten gleich alle Daten der Pflegeeltern und seine natürlich auch.«
»Die Person, nach der Sie sich erkundigen, heißt Gerd Speckbacher. Bis vor wenigen Wochen wohnhaft in Bad Tölz. Jetzt ist er in 83246 Unterwössen gemeldet. Warten Sie.« Degenwald hört es rascheln. »Niederfeldweg lautet die Straße. Hausnummer hab ich allerdings keine.«
»Wie bitte?«, stößt Karl Degenwald heraus.
»Das müsste gleich bei Ihnen um die Ecke sein. Traunstein ist ja nicht weit entfernt«, fügt die Dame von der Adoptionsstelle an.
»Sind Sie sicher?«, fragt Degenwald nach. »Liegt kein Irrtum vor? Herr Speckbacher zog vor Kurzem ausgerechnet nach Unterwössen?«
»Selbstverständlich bin ich mir sicher. Der Herr Speckbacher ist als Einzelkind bei Ingrid und Hermann-
Josef Speckbacher in München/Puchheim aufgewachsen, hat, nachdem er einmal sitzen geblieben ist, das Abitur geschafft, ein Studium der Publizistik und der politischen Wissenschaften abgeschlossen, mehr schlecht als recht, muss man fairerweise sagen, und arbeitet heute als Journalist bei der Chiemgau-Zeitung. Kein Wahnsinnsjob, wenn Sie mich fragen. Aber er arbeitet zumindest. Ist heute ja nicht bei jedem der Fall. In Zeiten wie diesen.« Die Frau schnauft kurz ins Telefon und sieht sich schließlich bemüßigt, weiter Auskunft zu geben. »Der Herr Speckbacher ist, meines Wissens, noch immer Single. Keine Kinder. Zu seinen Eltern hat er kaum noch Kontakt. Da muss es mal einen Vorfall gegeben haben. Man berichtete mir, dass er es seinen Pflegeeltern ziemlich übel genommen hat, erst so spät von seiner Adoption erfahren zu haben. Nicht alle Menschen können mit so etwas umgehen. Vor allem souverän umgehen. Wenn sie erfahren, dass die Eltern gar nicht die Eltern sind. Ich glaube, er hat sehr darunter gelitten, nicht zu wissen, wo seine Wurzeln sind.« Degenwald wundert sich, wie gesprächig in Bezug auf tatsächliche Fakten die Dame am anderen Ende mit einem Mal ist. Und er wundert sich über die Informationen, die er von ihr bekommt.
»Danke! Fürs Erste habe ich genug gehört. Ich komme unter Umständen noch mal auf Sie zurück.« Degenwald legt den Hörer auf und ruft danach Elsas Handynummer auf. Doch er hört nur die Stimme ihrer Mailbox und legt erneut auf. Hat Elsa ihm nicht erst unlängst erzählt, ein gewisser Gerd Speckbacher habe sich nach den Mordfällen Luise Gasteiger und Veronika Steffel erkundigt? Den Namen hat er sich gemerkt.
Degenwald fasst sich an den Bart, kratzt sich mechanisch das Kinn, steht auf, nimmt seine Jacke und verlässt das Büro. Draußen singen die Vögel viel zu laut, findet er. Außerdem ist es ziemlich warm. Ein schwül-klebriger Wind umspielt seine Kleidung. Vor allem die Hosenbeine. Mit Wärme hat
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