Glutnester
Hier, wo s’ g’lebt hat und g’storben is, is s’ mir am nächsten. I wollt ihr song, wenn s’ tatsächlich mei Mutter g’wesen is, dann verzeih i ihr. Trotz allem. I wollt ihr bös sein, aber i kann’s halt nur im ersten Moment.« Ein raues Schluchzen entkommt Helga Kratzers Kehle. Ein Schluchzen, das sie rasch in den Griff bekommt und hinunterschluckt.
Degenwald legt den Arm um sie. Eine väterliche Geste. Er bemerkt ihr leises, rhythmisches Zucken, das sie vor ihm verbergen will und augenblicklich unterdrückt.
»Was sagst du denn dazu, dass die Veronika den Tod der Luise so präzise aufgeschrieben hat? In ihrem letzten Romanheftchen«, fragt er.
»Vielleicht hat sie d’ Mama ei’g’sperrt?« Jetzt lacht Helga laut auf. »Darauf is wohl no koaner kemma, oder? Und danach, als ’s passiert war, als sie sie zu Tode g’sperrt hat, ihr’m Schicksal ergeben, da hat s’ sich aus bitterer Schuld selbst g’richtet.«
»Veronikas Tod war kein Selbstmord, Helga. Und alles rund um den Tod deiner Mutter kann ich zum bisherigen Zeitpunkt leider immer noch nicht beantworten.«
»Dann is es der Papa g’wesen.« Helga spricht mit einer seltsamen Folgsamkeit. Doch sie lacht erneut auf und mildert das Gesagte dadurch ab. Jetzt soll es wohl wie ein dummer Scherz klingen, vermutet Degenwald. Er sieht sich in der Verantwortung, Helga Kratzer zu warnen.
»Überleg dir, was du sagst, Helga«, meint er ernst. »Ich muss jeder Anschuldigung nachgehen. Und was einmal ausgesprochen wurde, kann man nicht mehr zurücknehmen.«
»Natürlich kamma des.« Helgas Gesicht sieht mit einem Mal blutleer aus. Die Schatten unter ihren Augen treten deutlich hervor. Sie wirkt wie eine Schauspielerin, die für ihre tragische Rolle in einem Horrorfilm frisch geschminkt ist. Jeder Lebensfunke scheint gewichen. »Is hoit a bleder Satz von mir g’wesen.« Helga fährt sich mit dem Unterarm über die zusammengepressten Lippen, über Wange, Nasenwurzel und Augenbrauen, um schließlich Degenwalds Arm von ihrer Schulter zu schieben und ihn regelrecht anzufauchen. »Wer is es denn nun g’wesen?«, wütet sie und bekommt langsam wieder Farbe auf die Wangenknochen. Zumindest einen Hauch davon. »Sog ma, wer könnt’s doa ham? Wer hot d’ Mama und ihre Schwester aufm G’wissen?« Helga stößt mit dem Fuß gegen den Baumstamm. Tritt energisch dagegen. Mehrmals hintereinander. Immer wieder. Das Holz bleibt unbeeindruckt von ihrer Kraft. »Diesen verdammten Schock kriag i net in den Schädel. Welchen Schock sollt die Mama vor ihr’m Tod erlitten ham? Und vor allem, weshoib?«
»Hast du das schon mal deinen Mann gefragt?« Degenwald setzt alles auf eine Karte. Er will Helga herausfordern. Beim Herausfordern kommt manchmal etwas zum Vorschein, das man sonst nie zu sehen bekommen hätte. »Hatte der Hubs etwa kein Tatmotiv? Dem ging doch längst alles auf die Nerven. Die Drecksarbeit im Stall. Der geringe Ertrag. Den Hof konnte er nicht verkaufen, solange deine Eltern ihm einen Strich durch die wohlüberlegte Zukunftsrechnung gemacht haben. Da ging es nicht nur um den Seelenfrieden, sondern auch um eine Stange Geld. Ich hab den Haberstock Fritz von der Stibo gesprochen. Der hat mir das bestätigt.«
»Du bist widerlich, Karl. Und da Haberstock a. Haust auf uns drauf, ohne dass mia wos doa ham. Find doch endlich raus, wos si zu’trang hot. Was treibt ihr eigentlich an liaben langen Dog in eierm sauber aufg’räumten Büro? Du und dei feine Kollegin. Die si sogar an unschuldigen Kindern vergeht.«
»Sie tut nur ihre Pflicht«, holt Hauptkommissar Degenwald zur Verteidigung aus.
»Sauberne Pflichten san des. Und sauberne Ermittler seit’s. Überall rumstochern, a in den Ritzen, nix rausfindn, aber fleißige, unbescholtne Leit verdächtigen.«
»Helga, bleib ruhig. Ich bitte dich. Reg dich nicht auf. Es lohnt nicht.«
»Kannst mi lang bitten. Mit all dem Dreck und Unrat an Wörtern is jetzt Schluss. Und erst dei Gedanken. Pfui Deifel! Ich geh hoam. Und du und dei elegante Frau Wegener schaut’s, dass ihr bei uns vorbeifahrts. Da habts nix mehr z’ suchen. D’ Tür zum Hof is zu. Nur, dass ihr’s wissts.«
Degenwald ist bemüht, ruhig zu bleiben. Es fällt ihm nicht gerade leicht. Ehe er sich’s versieht, fährt Helga erneut ihren Arm aus, scheucht ihn mit fuchtelnden Bewegungen zur Seite, als sei er eine nicht erwünschte Person. Er weicht geschickt ihrem knochigen Ellbogen aus, und sie steuert den Spazierweg Richtung Unterwössen
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