Glutnester
an und schlägt sich in die Büsche.
»Helga, warte doch«, versucht Degenwald sie zurückzuhalten. Er läuft ihr einige hastige Schritte hinterher. Stolpert über einen ziemlich ansehnlichen Ast, den er, in Anbetracht der Situation, leider übersehen hat, sticht sich zu allem Überfluss an wilden Brombeerranken, die ihm ins Gesicht peitschen, und flucht. Dann gibt er auf. Er sieht ein, dass jedes Wort an diese Frau ein unnötig ausgesprochenes ist. Daran würde eine übereilte Verfolgung und die Tatsache, dass er sie aufhielte, nichts ändern. Heute ist kein vernünftiges Gespräch mit Helga Kratzer möglich. Dafür ist sie zu aufgebracht. »Bockig wie ein kleines Kind«, murmelt Karl Degenwald vor sich hin. Er zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, tupft sich das zerkratzte, blutende Gesicht ab und wendet seinen Blick von der flüchtenden Helga ab. Plötzlich weiß er, was er als Nächstes tun wird.
Gerd Speckbacher aufsuchen. Veronika Steffels verlorenen Sohn. Vielleicht wird er dort fündig. Darauf hofft Degenwald inständig.
Je näher der Abend kommt, desto unruhiger wird Elsa. Sie hat inzwischen fünf-oder sechsmal versucht, Anna zu erreichen. Doch sie gerät jedes Mal an die Mailbox. Annas süße Stimme springt an und säuselt ihr ins Ohr, dass sie bei guten Nachrichten bald zurückrufen wird und schlechte nicht zur Kenntnis nimmt. Elsa hat zweimal aufs Band gesprochen. Was eine Telefonverabredung mit ihr wert sei, hat sie Anna gefragt. Das sei zwar keine gute Nachricht, aber sie bitte trotzdem um Rückruf. Und zwar so schnell wie möglich.
Die missglückten Anrufe lassen den beginnenden Abend zu einem Gang über Minenfelder werden. Ablenken, denkt Elsa. Irgendwas tun. Anna wird schon nichts passiert sein. Elsa parkt ihren Golf vor der Garage ihres Hauses in Unterwössen, steigt aus und überquert mit energischen Schritten die kleine Brücke. Sie entscheidet sich gegen den Gang über den Friedhof, der ihr sonst so gut gefällt. Die brennenden Lichter auf den hübsch geschmückten Gräbern würden sie heute nur auf falsche Gedanken bringen. Stattdessen schlägt sie die andere Richtung ein. Am Fluss entlang, vorbei an den Thujenhecken. Der Weg ist gefahrloser. Elsa quetscht ihren Körper den schmalen Trampelpfad entlang, weiter nach vorn, auf den Ortskern zu. Nach wenigen gezählten Schritten ist sie beim Supermarkt angelangt, der um die Zeit gut besucht ist. Elsa schnappt sich einen Einkaufswagen, wirft eine 1-Euro-Münze ein und beginnt, die Reihen des Geschäfts zu durchpflügen. Drinnen, unter lauter Menschen, geht es ihr besser. Das schier unübersichtliche Angebot der Waren und das Gerede der Leute lenkt sie ab. Heute wird Elsa sich keinesfalls zurückhalten. Sie beginnt, wahllos einzukaufen. Sauerteigbrot, Vollkorn-Baguette, Butterkäse, Blauschimmelkäse, Schinkenspeck, Silberzwiebeln im Glas, Annas Lieblingsjoghurt mit Ananasstückchen, zwei Flaschen Rotwein aus Italien und Bier für Karl Degenwald, der, das fällt ihr gerade noch rechtzeitig ein, später vorbeikommen wird. Um ihr beizustehen. Was ihre Angst vor Slips vor der Haustür und seltsame Geräusche anbelangt. Doch um die Art von Angst geht es inzwischen gar nicht mehr. Jetzt geht es um Anna. Anna, die nicht erreichbar, vielleicht sogar verloren gegangen ist. Von Berufs wegen würde Elsa von einer abgängigen Person sprechen. Doch den Gedankenkiller lässt sie noch nicht zu. Vorerst hält sie sich an ihre Wut, dass Anna sich nicht meldet. Enttäuschte Elternwut. Damit lässt sich umgehen. Den Rest mag Elsa sich nicht länger vorstellen.
Wie sie so durch die Gänge des Supermarkts streift, vorbei am stetig Kühle ausströmenden Regal mit den Milchprodukten, links von sich das Salzknabbergebäck, Soletti und Erdnüsse in bunten Packungen, weiter vorne die Süßigkeiten, Ritter-Sport-Vollmilchschokolade, Giotto, Marsriegel, Lindt-Pralinen, bunte Haribobeutel und all dieses künstlich verschönerte Zeugs, spürt sie, dass alles nichts hilft. Nichts erweckt den Anschein eines gewöhnlichen Abends, der im Supermarkt seinen Auftakt findet und zu Hause fortgeführt werden soll. Ausnahmsweise einmal zu dritt. Nicht die Stimme der an der Kasse sitzenden Angestellten mit den schlecht gesträhnten Haaren. Auch nicht der sie kurz anrempelnde übergewichtige Junge, der sie noch dazu barsch anmacht. Die Arme voller Chips und Fastfood. Gar nichts hilft. Die nackte Angst pflügt sich erneut Elsas Rücken hinauf. Es beginnt bei den Fußspitzen,
Weitere Kostenlose Bücher