Glutopfer. Thriller
Blick.
»Schöner Morgen. Ich wünschte, wir könnten ihn unter besseren Umständen genießen.«
Preacher nickt.
Die Deputys und die Hundestaffel sind von der Lichtung aus inzwischen so weit in den Wald vorgedrungen, dass man sie nicht mehr sieht, nur vereinzeltes Gebell, Gelächter oder Geschrei verrät, dass sie da sind.
»Ich habe gezögert, zu dir zu kommen«, sagt Joe Kent, »bei unserer gemeinsamen Vorgeschichte.«
»Wie ist die denn genau?«, fragt Preacher.
»Aber wie ich höre, wird Steve Phillips vermisst.«
Preacher nickt wieder.
»Stimmt.«
Preacher schwitzt am Kopf unter der grünen Sheriff-Mütze, und die Feuchtigkeit, die das Band nicht aufsaugt, läuft die Schläfen hinunter auf seine Wangen. Er wischt sie mit den Fingerspitzen weg und benutzt seine Jeans zum Abtrocknen.
»Tja, falls du meine Unterstützung annehmen willst, kann ich dir vielleicht welche bieten.«
Sam kann sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, so sehr sie es auch versucht.
Es liegt nicht an Chabon oder an dem, was er ihr angetan hat. Es liegt auch nicht an dem enormen Druck, diesen Fall zu lösen, und nicht an der Angst, dass sie von ihm abgezogen wird, wenn sie nicht bald etwas vorzuweisen hat. Es liegt an Daniel. Warum hat er sich am Morgen so verhalten? Woher diese Veränderung? Nicht, dass er gemein oder hässlich gewesen wäre. Sie hat keineswegs gestern Abend die Tür vor Dr. Jekyll geschlossen und am Morgen für Mr Hyde wieder geöffnet. Daniel war höflich und zuvorkommend, aber so distanziert, so abwesend.
Sie könnte ja verstehen, wenn er es sich anders überlegt oder das Interesse verloren hätte, aber warum hat er dann zuvor etwas so Liebevolles getan? Warum ist er zuerst so freundlich und aufmerksam und dann so unnahbar und desinteressiert?
Konzentrier dich. Du kannst es dir nicht leisten –
Sie begreift, dass es sinnlos ist, und da sie sowieso nichts zustande bringt, solange sie am Schreibtisch Beweismittel durchsieht und Recherchen anstellt, beschließt sie, sich im Wald an der Suche nach Steve zu beteiligen.
Weil Preacher nicht weiß, ob er Joe Kents Informationen trauen kann, und weil er keine Sekunde der Arbeitszeit jener Leute verschwenden will, die nach seinem abtrünnigen Deputy suchen, fährt er allein zu dem alten Marshall-Gebäude an der Country Road 232 .
Es ist ziemlich weit hergeholt. Steves Auto wurde am anderen Ende der Stadt sichergestellt, aber er muss dem Hinweis nachgehen wie jedem anderen auch, und im Grunde dürfte das auch in null Komma nichts erledigt sein.
Hier scheint alles zu stimmen. Reine Zeitverschwendung.
Aber wenn ich schon mal da bin, kann ich auch reingehen.
Er findet es etwas seltsam, dass die Eingangstür nicht abgeschlossen ist, aber nicht so seltsam, dass es ihn beunruhigt.
Hinter der Tür liegt ein großer, leerer Raum mit dicken, staubbedeckten Vorhängen und einem Teppich, der nach Schimmel riecht. Auf allen Seiten gehen weitere Räume ab, die früher für Totenfeiern genutzt wurden und nun leer sind. Vor ihm an der Stirnwand gibt es drei Türdurchgänge – hinter den beiden äußeren liegen Korridore, die weiter in das Gebäude hineinführen, und durch den mittleren gelangt man in eine kleine Kapelle.
»Ist da jemand?«, ruft er und lauscht dann aufmerksam.
Es kommt keine Antwort, doch er bleibt noch eine Weile ganz still stehen und wartet ab, ob er etwas hört.
»River? Bist du da? Steve?«
So albern es sein mag, er zögert tatsächlich etwas, durch einen der Korridore nach hinten zu gehen. Er sagt sich, dass es eher an dem früheren Zweck des Raums liegt und daran, dass er selbst bald in einem ähnlichen liegen wird, und nicht so sehr an der Möglichkeit, dass dort tatsächlich jemand ist, aber er weiß nicht recht, ob er das wirklich glaubt.
Als er die beiden äußeren Türen betrachtet, fällt ihm eine Geschichte mit dem Titel »Die Dame – oder der Tiger« ein, die er in der Highschool gelesen hat, zumindest glaubt er, dass sie so hieß. Er kann sich nicht mehr besonders gut daran erinnern, weiß aber noch, dass sie mit einer Wahl zu tun hatte, die ein Mann treffen musste – zwischen der Dame, die ihn heiraten, und dem Tiger, der ihn fressen würde. Der Mann stand vor zwei Türen und musste entscheiden, ob die geliebte Frau ihn lieber glücklich mit einer anderen oder tot sehen würde, wenn sie ihn nicht selbst haben konnte.
Such dir einfach eine verdammte Tür aus und bring es hinter dich. Du hast zu viel zu tun, um hier deine Zeit zu
Weitere Kostenlose Bücher