Glutroter Mond
Chance. Ich reiße den Kopf herum und sehe durch den Schleier aus Schmerz Craigs Silhouette, die sich vor dem Licht einer Laterne abhebt - eine der wenigen, die noch funktionieren. Er streckt die Hand aus, als wolle er etwas entgegennehmen.
Ich sammle all meine Kraft und meinen Mut und beiße erneut in Kanes und des anderen Mannes Hand. Meine Bewegungen sind so schnell, dass sie es erst mitbekommen, als der Schmerz sie reflexartig die Hand wegziehen lässt. Ich fahre nach oben und versetzte ihnen nacheinander einen Tritt. Sie schreien, rudern mit den Armen und fallen mit einem lauten Platschen in den Fluss.
Craig fährt herum, er ist noch immer unbewaffnet. Loraine steht mit der Pistole in der Hand neben ihm und hält sie ihm hin. Mit gefletschten Zähne springe ich ihn an, ehe er sie an sich nehmen kann. Hart pralle ich gegen ihn und reiße ihn zu Boden. Ich verkralle mich in seinen schwarzen Anzug und schleudere ihn Richtung Fluss, seinen Kameraden entgegen. Auch er schlägt auf der Wasseroberfläche auf. Ich bin stärker als ein Mensch, aber es kostet mich enorme Willenskraft und Energie. Ich bin nicht sicher, ob ich eine Flucht noch überstehe. Ich entscheide, Loraine zu ignorieren und meine Kräfte stattdessen in einen schnellen Spurt zu investieren. Im Augenwinkel sehe ich, wie sie die Pistole auf mich richtet, aber der Lauf zittert.
»Loraine! Schieß doch endlich!« Craigs Stimme dröhnt von der Wasseroberfläche aus zu mir herüber. Er und seine beiden Kollegen sind bereits dabei, wieder ans Ufer zu klettern. Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne in die Nacht hinaus. Hinter mir gellen Schüsse, aber keiner davon trifft sein Ziel.
Ich renne und renne, passiere den Central Park und hetze die menschenleere Fifth Avenue hinunter nach Süden. Meine Kräfte verlassen mich jedoch schnell, mir geht die Puste aus. Schon bald werde ich langsamer, falle in ein gemächliches Gehtempo. Die Schusswunde an meinem Schienbein ist verheilt. Zum Glück hat mich keine weitere Kugel getroffen. Ich bezweifle, dass mein Körper es noch einmal so gut weggesteckt hätte.
Ich lege den Kopf in den Nacken und beobachte den Nachthimmel. Dunkle Wolken schieben sich immer wieder vor den Mond. Hoffentlich regnet es nicht. Noch mehr Wasser kann ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen.
New York ist bei Nacht einst ein wahrlich magischer Ort gewesen, doch vom ehemaligen Glanz des Big Apple ist nichts übrig geblieben. Keine hell erleuchteten Fenster, kein lärmender Verkehr. Wo ist nur die Zeit geblieben?
Ich zwinge mich, meine Konzentration wieder im Hier und Jetzt zu verankern. Was mache ich nur? Ich habe die Drogen nicht bekommen, und ehrlich gesagt ist das momentan auch mein kleinstes Problem. Heute Nacht kann ich mich nicht zurück zum Lincoln Tunnel wagen.
Ich beschließe, bis zum nächsten Tag zu warten. Vielleicht kann ich der Beschäftigung nachgehen, die Craig mir vorgeworfen hat - wildern. Ein paar frische Menschen könnte meine Sippe gut gebrauchen. Und ich sowieso. Meine Energiereserven sind im Keller.
Kapitel fünf
Holly
Ich verzichte darauf, das Gebläse zu benutzen, um meine Haare zu trocknen. Schwer hängen sie mir auf die Schultern hinab. Wenn sie nass sind, locken sie sich nicht ganz so stark. Ich mag das. Gerne hätte ich glatte Haare, die nicht so störrisch sind wie meine. Wenn ich sie unter dem Gebläse trockne, sind sie anschließend noch buschiger, deshalb verzichte ich zumindest im Sommer darauf.
In der Eingangshalle des Badehauses warte ich auf Neal. Ob er sich die Haare trocknet? Weshalb benötigt er bloß so lange? Ich sitze auf einer Bank unter dem Fenster und lasse meinen Blick durch den Raum mit der hohen Decke schweifen. Es ist noch früh am Morgen, dennoch bin ich schon lange wach. Ich bin schon joggen gewesen, direkt nach Sonnenaufgang. Neben mir steht die gelbe Plastikkiste mit dem verschwitzten Anzug, den ich mir nach dem Sport liebend gern vom Leib gerissen habe. Ich bin froh, einen frischen Anzug zu tragen. Nach einer heißen Dusche fühle ich mich immer am besten. Neal ist nicht mit mir zum Laufen gegangen, aber wir hatten uns vor dem Badehaus verabredet. Es gibt einen getrennten Bereich für Männer und Frauen, weshalb wir während der Körperreinigung ohnehin nicht miteinander kommunizieren können. Dennoch gehen wir immer zusammen zum Badehaus.
Um diese Uhrzeit sind noch nicht viele Menschen hier. Es gibt zehn Badehäuser im gesamten Stadtgebiet. Sie gehören - neben den medizinischen
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