Glutroter Mond
Stationen - zu den wenigen nicht zerstörten öffentlichen Gebäuden. Ihre Fassaden sind glatt und weiß, es gibt elektrisches Licht und die Böden sind gefliest. Manchmal frage ich mich, ob die zerstörten Hochhäuser auch einst so modern gewesen waren, bevor das Erdbeben und der Virus alles zunichtegemacht haben.
Die Tür zu dem Umkleidekabinen der Männer öffnet sich und Neal tritt heraus. Seine Haare sind trocken und umspielen in dunkelblonden Wellen sein Kinn. Unter seinem Arm klemmt die blaue Plastikbox, in der sich sein schmutziger Anzug und die Unterwäsche befinden. Als er mich sieht, hellt sich seine Miene auf. Ich erhebe mich von der Bank.
»Du hast deine Haare nicht getrocknet«, bemerkt er.
Ich schüttele den Kopf und klemme mir die gelbe Kiste unter den Arm. »Es ist Sommer. Außerdem mag ich es nicht, wenn meine Haare sich so arg locken.«
Wir treten durch die gläserne Eingangstür ins Freie. Eine Gänsehaut überzieht meine Unterarme, als der kühle Wind über meinen nassen Kopf streicht. Es ist doch nicht so warm, wie ich gedacht hatte.
»Ich mag deine Locken«, greift Neal das Thema wieder auf.
»Du musst sie ja auch nicht jeden Abend kämmen. Vielleicht sollte ich sie mir abschneiden lassen.«
Einmal im Monat ist es möglich, im Zuge des Wäscheaustauschs am Samstag an der Brücke seine Haare schneiden zu lassen. Die Obersten schicken dann ein paar ihrer Leute, die dies übernehmen. Doch viele von ihnen schneiden schief und halbherzig.
»Auf keinen Fall«, empört sich Neal. »Du siehst gut aus. Lass das ja so!«
Ich schmunzle in mich hinein und wir machen uns auf den Weg die Straße entlang zurück zu unserer Wohneinheit. Neal geht so nah neben mir, dass sein Oberarm den meinen berührt. »Es gibt nichts, das ich an dir ändern würde«, fügt er an.
Blut steigt mir in die Wangen, aber ich erwidere nichts darauf. Neal verhält sich seit unserem Gespräch an der Südspitze äußerst zuvorkommend und schmeichelnd. Wir haben kein Wort mehr über den Vorfall verloren, aber ich habe den Eindruck, er versucht, etwas bei mir gutzumachen, indem er mich noch mehr umgarnt als zuvor. Es ist mir bisweilen unangenehm.
Wir erreichen unser Wohnhaus, es liegt nur wenige Gehminuten vom Badehaus entfernt, worüber ich sehr froh bin. Da ich jeden Tag Sport treibe, möchte ich mich auch jeden Tag waschen. Wir dürfen das so oft tun, wie wir möchten, es gibt keine Kontrollen darüber. Mich ärgert einzig die Tatsache, dass ich nicht mehr Anzüge und Unterwäsche von den Obersten erhalte. Manchmal nehme ich heimlich einen meiner Anzüge mit in die Duschkabine, wasche ihn mit Seife und stecke ihn nass in die Kiste. Zuhause hänge ich ihn dann zum Trocknen auf, anstatt ihn abzugeben. Aber das mache ich nicht so oft, weil es umständlich ist und ich mir dann die neckischen Bemerkungen von Carl oder Neal gefallen lassen muss.
Neal hält seinen Daumen vor den Scanner und die Tür schwingt auf. Schon als wir die Treppe nach oben gehen, merke ich, dass etwas anders ist als sonst. Aufgeregte Stimmen dringen aus dem Flur zu uns herab. Kaum, dass wir den oberen Treppenabsatz erreichen, kommt Carl auf mich zu, hinter ihm stehen Suzie und Candice.
»Zum Glück seid ihr noch rechtzeitig gekommen, wir wären sonst ohne euch aufgebrochen«, sagt er.
Ich bin verwirrt und ziehe die Stirn kraus. Es ist doch noch früh am Morgen.
»Was ist denn hier los?«, fragt Neal, offensichtlich ebenso verwirrt wie ich. Wir stellen unsere Plastikkisten auf den Boden.
Carl öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber Suzie schiebt sich an ihm vorbei und tritt direkt vor mich. Sie legt ihre Hände auf meine Schultern. Ich unterdrücke den Impuls, sie von mir zu stoßen.
»Stellt euch vor, heute Morgen in aller Frühe kam ein Brief. Ich werde noch heute über die Brücke gehen! Das Frühstück wird zugleich die Verabschiedung der Rekruten sein. Wir müssen uns sofort auf den Weg machen.« Sie spricht schnell und ihre Stimme überschlägt sich beinahe. Ihre Wangen sind vor Eifer gerötet. Ich spüre, wie mir das Herz in die Hose rutscht. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggerissen.
»Was ist mit mir?«, bringe ich hervor. Ich höre mich in meinen eigenen Ohren an wie ein weinerliches Kind, obwohl ich es beiläufig hatte klingen lassen wollen.
Suzies Gesicht nimmt einen Ausdruck gespielten Mitleids an. Ich hasse sie in diesem Augenblick dafür. »Deine Individuennummer wurde in dem Brief leider
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