Glutroter Mond
Norden gehen, stoßen weitere Menschengruppen zu uns. Die Stimmung ist wie immer, die meisten plaudern locker miteinander. Nichts lässt darauf schließen, dass heute die Rekruten verabschiedet werden. Wie viele wohl noch mit Suzie gehen werden? Und weshalb hat man sie überhaupt für tauglich befunden? Sie ist nicht besonders klug, auch nicht sportlich. Ich habe keine Ahnung, nach welchen Kriterien die Obersten ihre Auswahl treffen. Es muss etwas in unserem Blut sein, wonach sie suchen. Offensichtlich erfülle ich die Anforderungen nicht.
Während wir schweigend nebeneinander herlaufen, passieren wir ein altes, rostiges Schild an einer Straßenecke. Es steht im rechten Winkel zu einer Stange ab, an der es befestigt ist. Ich habe ihm bislang nie Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl ich bereits wusste, dass es hier steht. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass stark verblasste Buchstaben darauf zu lesen sind.
Broadway
kann ich dort lesen. Ob das der Name der Straße in der alten Welt war? Seltsam, dass ich ihn nie zuvor bemerkt habe. Nun, ich werde noch hinreichend Gelegenheit bekommen, die hintersten Winkel der Stadt zu erkunden. Der Minimarket und das Straßenschild werden nicht die letzten Geheimnisse gewesen sein, die ich ihr entlocke. Immerhin werde ich mein ganzes restliches Leben in diesen Straßen verbringen. Ha ha.
***
Ich sitze auf meinem üblichen Platz am langen Tisch im Park. Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer, nichts deutet darauf hin, dass heute einige von uns ihr altes Leben verlassen werden. Wir warten auf unsere Essensration, hinter uns stehen bewaffnete Männer, die sich nicht rühren und wie unbewegte Statuen wirken. Suzie rutscht neben mir nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Immer wieder fragt sie, wann es endlich losgehen wird, dabei wird sie nicht müde zu betonen, dass sie vor Aufregung ohnehin nichts essen kann. Ich versuche gar nicht erst, sie zu beruhigen oder ihr Mut zu machen. Ich hoffe, dass ich in ein paar Tagen zur Normalität zurückkehren kann und Suzie vergessen habe. Die Wunde wird heilen. Hoffentlich.
Irgendwann öffnen einige Arbeiter in schwarzen Anzügen die Klappe des Containers, aus dem sie unser Essen holen. Noch immer kann ich keinen Unterschied zu anderen Tagen feststellen. Eilig werden Teller herangetragen und vor den Leuten auf den Tisch gestellt, aber es dauert wie immer unerträglich lange, ehe alle mit Nahrung versorgt sind.
Mir fällt auf, dass es heute neben dem Vitaminbrei und dem Obst auch ein Stück Gebäck gibt. Es ist dunkelbraun und rechteckig und mit einer weißen Zuckerglasur überzogen. Ich höre freudige Ausrufe und ein allgemeines Ansteigen des Geräuschpegels von den anderen Tischen. Wir bekommen nicht oft Süßspeisen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann man uns zum letzten Mal ein Nahrungsmittel serviert hat, dass dem Genuss und nicht dem Überleben diente. Ich glaube, das ist schon über ein halbes Jahr her. Bislang ist es der einzige Anhaltspunkt, der darauf schließen lässt, dass heute ein besonderer Tag ist.
Die meisten stürzen ihren Kuchen gierig herunter, Neal auch. Andere lassen ihn sich auf der Zunge zergehen und brechen nur ganz kleine Stücke davon ab. Ich hebe mir den Kuchen auf, bis ich alles andere auf meinem Teller gegessen habe. Doch als der Vitaminbrei und das geschälte Stück Apfel in meinem Magen verschwunden sind, habe ich gar keinen Hunger mehr auf Kuchen. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn irgendwie aus dem Park zu schmuggeln und ihn für später aufzuheben, doch das ist verboten. Außerdem hätte ich nicht gewusst, wie ich ihn verstecken soll. Ich möchte nicht, dass die Taschen meines Anzugs kleben.
»Was ist?«, fragt mich Neal, als er alles aufgegessen hat. »Möchtest du deinen Kuchen nicht?«
Ich schüttele stumm den Kopf.
Carl legt mir seine Hand auf die Schulter. »Holly, nun mach nicht so einen Wind wegen des Bluttests. Du hättest wissen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass man dich rekrutiert.«
Wut steigt in mir auf. Er soll endlich aufhören mit dem Thema. Weshalb denkt er bloß, ich esse deswegen meinen Kuchen nicht? Pah!
»Lass sie doch«, sagt Suzie, die auf meiner anderen Seite sitzt. Am liebsten hätte ich ihr dafür ins Gesicht geschlagen.
»Ich habe lediglich keinen Hunger mehr. Sonst nichts. Ich möchte überhaupt nicht rekrutiert werden!« Ich weiß, dass ich nicht besonders überzeugend klinge, womit ich meine Situation nur verschlimmere.
Obwohl ich wirklich
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