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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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nicht erwähnt.«
    Ein Schlag ins Gesicht hätte nicht schmerzhafter sein können. Meine Träume zerfallen in diesem einen Moment zu Staub. Mein Herz hämmert heftig, ich muss die Tränen unterdrücken, die mir in die Augen zu steigen drohen. Ich möchte vor den anderen nicht heulen, und eigentlich sieht mir das auch gar nicht ähnlich, aber ich betrachte den Sinn meines Lebens in nur einer einzigen Sekunde als zerstört. Ich werfe einen flüchtigen Seitenblick zu Neal, der neben mir steht und nervös von einem Fuß auf den anderen tritt. Seine Mundwinkel zucken, man merkt ihm seine Unsicherheit deutlich an. Ich weiß, dass er sich insgeheim darüber freut, dass ich die Stadt nicht verlassen werde, andererseits gebietet es ihm die Höflichkeit, sein Bedauern zu zeigen.
    »Kann ich den Brief mal sehen?« Ich komme mir noch im selben Moment dumm vor, als ich die Frage stelle. Ich benehme mich tatsächlich kindisch, weil ich ihre Worte anzweifle. Aber Suzie scheint es mir nicht übel zu nehmen, sie lächelt nur verständnisvoll. »Wir sind schon spät dran. Wir hätten längst aufbrechen müssen.«
    Es hätte mir recht sein sollen. Möchte ich mir tatsächlich noch einmal vor Augen führen, dass die Wahl auf Suzie und nicht auf mich gefallen ist? Ich stelle mir bildlich vor, wie sie mit dem Brief vor Carls Nase herumgewedelt und ihm freudestrahlend jeden einzelnen Satz gezeigt hat. Er wird es bezeugen können.
    So schwer es mir fällt, es zuzugeben: Ich wurde nicht genommen. Punkt.
    Ich sehe Carl an, der sich auf die Unterlippe beißt. »Sei nicht traurig. Wir möchten die letzten Stunden, die wir mit Suzie gemeinsam verbringen, genießen.« Er macht eine Geste als wolle er Fliegen verscheuchen. »Und nun geht, wir müssen uns beeilen.«
    Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe die Treppe wieder hinunter. Hinter mir folgt Neal, dann die anderen. Meine Beine zittern. Es fühlt sich an wie Schüttelfrost, als hätte ich Fieber. Ich wünsche mir so sehr, allein zu sein. Der Drang ist beinahe übermächtig. Und dennoch muss ich jetzt tapfer sein, die Zähne zusammenbeißen und an Suzies Verabschiedungszeremonie teilnehmen, obwohl ich innerlich von Frust zerfressen bin. Ich weiß, dass ich unfair bin, aber ich kann mich einfach nicht für sie freuen. Die Wunde ist noch zu frisch.
    Neal scheint meine Seelenpein zu spüren. Als wir die breite Straße Richtung Norden hinauf laufen, legt er seinen Arm um meine Schulter, wie er es oft tut, als seien wir ein Paar. Ich lasse es geschehen.
    »Nimm es nicht so schwer, Holly.«
    Ich möchte seinen Arm von mir stoßen und ihn anschreien, aber vor Suzie will ich mir nicht die Blöße geben. Sie soll nicht merken, dass ich ihr ihre neue Position neide.
    Ich antworte Neal nicht in der Hoffnung, er würde endlich schweigen. Doch das tut er nicht.
    »Du weißt doch gar nicht, ob es dir in der Zentrale besser gegangen wäre.« Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. Das Quartier der Obersten wird
Zentrale
genannt, aber wir benutzen das Wort selten, weshalb ich ein wenig stutze.
    »Niemand derjenigen, die noch einmal in die Stadt zurückgekehrt sind, haben noch ein einziges Wort mit uns gesprochen. Vielleicht wird man dort arrogant.« Er möchte mich aufheitern, das ist mir bewusst, aber ich kann einfach nicht lächeln. Ich habe mir immer gewünscht, mit Erreichen des sechzehnten Lebensjahres in ein neues Leben zu gehen, eines in Luxus und Wohlstand. Was interessiert es mich, ob ich dort arrogant geworden wäre.
    Es sind die trotzigen Gedanken eines in den Grundfesten erschütterten Menschen, das weiß ich, dennoch kann ich sie nicht unterdrücken.
    Suzie scheint unser Gespräch belauscht oder zumindest beobachtet zu haben, wie Neal tröstend auf mich einredet. Sie geht nun neben mir und streicht mir einmal über den Arm. Kann sie nicht einfach weggehen?
    »Ich weiß, dass du traurig bist. Aber kannst du dich nicht wenigstens ein bisschen mit mir freuen?«
    Ich hätte so tun können, ja, aber wäre es von Herzen gekommen
?
Ich entschließe mich, nichts zu sagen und einfach über ihre Worte hinwegzugehen.
    Irgendwann merkt sie, dass ich sie nicht ansehe und auch nichts antworten werde, denn sie lässt sich wieder zurückfallen, um neben Carl und Candice zu gehen. Candice ist schon einundzwanzig Jahre alt, sie hat damals nicht so ein Theater gemacht, als der Brief ausblieb. Sie ist ohnehin sehr still und gefasst. Ich sollte mir ein Beispiel an ihr nehmen.
    Während wir die breite Straße nach

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