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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Leute werden darüber reden.«
    Der Vater stellte sich vor die Mutter. Daran erinnerte sich Johan, und genau in dem Moment, als er sich daran erinnerte, indem er es vor sich sah, den Vater, der sich vor die Mutter stellte, sah er etwas, was er vorher nicht gesehen hatte.
    Es war nämlich so, dass Johan, wenn er an seine Eltern zurückdachte, die Mutter als mächtig und den Vater als klein in Erinnerung hatte. Aber jetzt, sechzig Jahre später, vor dem Spiegel im Badezimmer, sah
er plötzlich vor sich, wie es sich tatsächlich verhielt. Die Mutter war keineswegs mächtig, sondern im Gegenteil klein. Sie war eine winzige Frau. Der Vater war mächtig.
    Der Vater stellte sich vor die Mutter und brüllte:
    Â»Wer redet?«
    Â»Alle reden!«, fauchte sie. »Alle! Und das weißt du!«
    Johan schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete und seinen Blick im Badezimmerspiegel fand, sah er die beiden erneut vor sich, wie er sie in Erinnerung hatte und wie er sie am liebsten auch in Erinnerung behalten wollte. Sie war groß, und er war klein.
    Der Vater nahm den Sohn mit zum Wandern und ins Kino, er war gutmütig und gut. Aber er war dennoch ein unbeholfener und übel riechender Mann (Johan hatte den Verdacht, dass er sich nicht richtig zwischen den Beinen wusch) und außerdem hatte er keine Freunde. Die Väter anderer Jungen hatten Freunde. Johans Vater nicht. Möglicherweise hatte die Einsamkeit des Vaters mit dem Krieg zu tun. Johan war nicht sicher. Die Väter anderer Jungen hatten Geschichten zu erzählen, und sie erzählten sie immer wieder, Johans Vater hingegen hatte keine einzige. Keinen einzigen Freund und keine einzige Geschichte.
    Und dann eines Tages wurde die Mutter wieder krank. Erkältung. Fieber. Blässe. Das war 1946 und Johan war gerade dreizehn geworden. Der Arzt hatte einen besorgten Gesichtsausdruck, nachdem er im
Zimmer der Mutter gewesen war, und Johan ging auf ihn zu und fragte: »Es wird wieder gut werden, nicht wahr? Mit Mutter?«
    Und der Arzt antwortete, man dürfe die Hoffnung nie aufgeben. Johan nickte und verfluchte den Arzt im Stillen für diese dumme Antwort. Der Mann war Arzt, nicht Pfarrer. Hoffnung konnten sie den Hinterhofkatzen und Deutschenflittchen geben. Und als ihm der Vater, der schwache, übel riechende, gutmütige Vater mit einer Hand durch die Haare fuhr und genau das Gleiche sagte wie der Arzt – wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Johan, wir dürfen nicht aufhören zu hoffen, dass Mutter es auch dieses Mal schafft –, ja dann, dachte Johan! Dann!
    Er schloss sich im Schlafzimmer ein, das er mit der Schwester teilte, fiel auf die Knie und flüsterte: »Hol ihn stattdessen. Hol meinen Vater, den ich lieb habe, anstelle von Mutter!«
    Und dann kam es ihm vor, als flüstere der Tod: »Aber wenn du deinen Vater lieb hast und deine Mutter ebenso, weshalb sollte ich dann ihn holen, wenn ich sie haben will?«
    Johan dachte nach.
    Â»Weil er schon länger lebt. Das ist ... gerechter so.« Es wurde einen Augenblick still. Johan sah zur Decke.
    Und dann hörte er die Stimme wieder. »Ist der Grund nicht vielmehr, dass du dir nichts aus deinem Vater
machst, Johan? Dass du der Meinung bist, dein Vater sei ein Mitleid erregender, übel riechender, feiger kleiner Mann, der ebenso gut jetzt schon sterben kann? Dass du deine Mutter vergötterst und ohne sie zugrunde gehen würdest? Ist es nicht so, Johan, mein Freund, dass du mich um einen Gefallen bittest?«
    Â»Nein«, antwortete Johan und faltete die Hände, »ich habe sie beide lieb. Vater ist ein guter Mann, er meint es gut. Es ist nur gerechter, wenn du ihn zuerst holst. Er ... er ... ist zehn Jahre älter als sie.«
    Johan sah wieder auf und begegnete seinem eigenen Blick im Badezimmerspiegel. Er sah müde aus. Erwar müde. Es war eine Müdigkeit, die einfach nur anhielt. Tag und Nacht. Er war schlaflos und müde. Er schlief und war müde. Es machte keinen Unterschied. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen im Krankenhaus, das glaubte, er sei genauso alt wie ihr Großvater. Er betrachtete sich. Dieses Gesicht hatte sie gesehen. Dieses Gesicht ... Das arme Kind!
    Am Tag nachdem der dreizehnjährige Johan den Tod um einen Gefallen gebeten hatte, verließ seine Mutter mit schwachen roten Rosen auf den Wangen das Bett. Eine Woche später blieb sie den ganzen Tag auf und drei

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