Gnade
und er war erleichtert darüber, dass er selbst das Schicksal nie herausgefordert hatte, niemandem gegenüber untreu geworden war, nicht einmal seiner Frau Nummer eins, die er nicht mochte. Und er vergaà nie, für Mai dankbar zu sein. Nicht einen Tag zusammen mit Mai nahm er als selbstverständlich.
Nach Ole Torjussens Begräbnis sprachen sie nicht über sein Leben â die Trauernden â und schon gar nicht darüber, dass er das Schicksal wahrhaftig einst »herausgefordert« und das Glück auf der anderen Seite des Atlantik gesucht hatte. Nein, es war die Fähigkeit des Verstorbenen, schön, friedlich, rasch und mit Würde zu entschlafen (»nach mutigem Kampf dahingerafft«), die hervorgehoben wurde. Vor allem seine verzeihende Ehefrau legte Wert darauf. Am Sterbebett hatte man Kerzen angezündet, die Familie versammelt, und Ole Torjussen hatte sie alle und insbesondere
seine Frau, seiner Liebe versichert. Und dann hatte er ihre Hand gedrückt und sie noch einmal um Verzeihung gebeten.
»Wofür denn, Liebster?«, flüsterte sie, denn sie wollte es gerne noch einmal hören.
»Für ...«
Ole Torjussen sah ein paar schöne braune Augen vor sich, sah eine Dachgeschosswohnung an der Columbus Avenue in New York vor sich und einen Mann, der den Weg zeigte, wenn Fremde sich verlaufen hatten.
»Wofür denn, Liebster?«, wiederholte Ole Torjussens Frau.
»Für alles!«, flüsterte Ole Torjussen und schloss die Augen.
Er schloss die Augen, dachte Johan (der die Geschichte von Ole Torjussens Sterbebett mehrmals gehört hatte), zum Teil, weil er im Sterben begriffen war, zum Teil, weil er die schönen braunen Augen noch einmal sehen wollte, bevor es zu spät war.
»Er schloss die Augen und starb mit einem Lächeln auf den Lippen«, schluchzte seine verzeihende und im höchsten MaÃe blauäugige Frau.
Johan war noch ein kleiner Knirps, als er sich zum ersten Mal an den Tod wandte. Damals tat er es im Namen seiner Mutter. Sie war erkältet und hatte Fieber, und dem Jungen kam plötzlich der Gedanke, dass sie sterben könnte. Für immer verschwinden. Um den
Vater sorgte er sich nicht, und er starb ja auch ein paar Jahre später, als Johan fünfzehn war. Aber die Mutter! Die Mutter mit den hübschen Händen. Mit den guten Küssen. Mit dem runden, weichen Bauch, in den er sein Gesicht bohren durfte. Sie durfte nicht sterben. Und er richtete den Blick zum Himmel, denn er hielt sich wohl irgendwo im Himmel auf, der Tod, und versprach, dass er kein Geld mehr aus Mutters Tasche nehmen würde und auch ansonsten ein lieber, folgsamer und braver Junge werden wollte, wenn die Mutter bei ihm bleiben durfte. Und der Tod erhörte ihn. Die Mutter genas und alles wurde wieder wie vorher mit einer Ausnahme, dass sich Johan von da an und natürlich in aller Heimlichkeit regelmäÃig mit dem Tod unterhielt. Im Namen seiner Mutter, im Namen seiner Schwester und in seinem eigenen Namen. Wie gesagt: Um den Vater sorgte er sich nicht. Aber das erzählte er dem Tod nicht. Das erzählte er niemandem. Er gestattete sich nicht einmal den Gedanken daran, denn der Tod konnte aller Wahrscheinlichkeit nach seine Gedanken lesen. Dann, nachdem die Mutter wieder genesen war, wurde Johan zu einem lieben, folgsamen und braven kleinen Jungen. Richtig lieb war er. Auch dem Vater gegenüber, der ein unbeholfener und übel riechender Mann war. Ein gutmütiger Mann, ja. Gutmütiger als andere Väter. Er nahm sich Zeit, um mit Johan und seiner Schwester zu reden, vor allem mit Johan, der jünger war. Las
ihm am Abend vor und nahm ihn mit zum Wandern und ins Kino. Sowohl während des Krieges als auch danach gingen sie ins Kino. Sie sahen sogar den deutschen Farbfilm Die goldene Stadt, für den Joseph Goebbels die letzten Worte der Heldin geschrieben hatte. »Vater, vergib mir, dass ich die Heimat nicht so liebte wie du!« Deshalb musste sie sterben. Sogar diesen Film sahen sie sich trotz der Proteste der Mutter an.
Johan schloss die Augen und hörte die Stimme seines Vaters.
»Ich will ihn nicht sehen, weil er deutsch ist, verflucht noch mal«, schrie der Vater, »ich will ihn sehen, weil er in Farbe ist!«
»Das macht keinen Unterschied«, flüsterte die Mutter. »Du verstehst das nicht. Es macht keinen Unterschied. Er kann so viele Farben haben, wie er will, er ist und bleibt deutsch. Die
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