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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Wochen später war sie gesund und wieder bei der Arbeit. Johan hatte den Vorfall im Schlafzimmer schon fast vergessen, als er ein Jahr später ein Gespräch zwischen Vater und Mutter in der Stube mithörte. Vater war beim Arzt gewesen, das wusste er
bereits, hatte aber nicht weiter darüber nachgedacht. Johan hörte Vaters ängstliches Flüstern und die ruhige, tröstende, sanfte Stimme der Mutter. Es wird wieder gut! Ich weiß, dass es wieder gut wird! Es wird immer wieder gut! Und dann hörte er, wie der Vater in Tränen ausbrach, hörte die Worte: Ich habe Angst! Johan setzte sich im Bett auf. Der Vater, dieser übel riechende, kleine Mann ohne Freunde, dieser gutmütige Mann, der immer gut zu Johan gewesen war, saß in der Stube und weinte und sagte, er habe Angst.
    Johan beeilte sich, die Hände zu falten und Danke zu sagen.
    Â»Danke, danke, danke«, flüsterte er und spürte gleichzeitig ein Weinen im Hals. Johan wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Er legte sich wieder hin. Schloss die Augen. Lauschte den Stimmen in der Stube. Vaters leisem Weinen.
    Johan faltete noch einmal die Hände.
    Â»Du!«, flüsterte er in die Dunkelheit. »He, du!«
    Keine Antwort.
    Â»Ich weiß, dass du mich hörst, und ich will nur sagen, dass ich dir dankbar bin dafür, dass du getan hast, worum ich dich gebeten habe, aber dass es kein kleines Opfer ist. Mein Vater ist ein guter Mann. Es ist nicht so, dass ich mir nichts aus ihm mache. Du hast gesagt, ich würde mir nichts aus ihm machen, aber das stimmt nicht.«

    Johan blies auf den Spiegel. Er sah das Gesicht seines Vaters vor sich. Erhaschte einen letzten Blick auf das entsetzte weiße Gesicht, bevor die Mutter die Tür schloss und das Brüllen begann.
    Â 
    Er wollte nicht wie sein Vater enden. Er wollte selbst entscheiden, wann die Zeit reif wäre. Er wollte niemandem zur Last fallen und am allerwenigsten Mai. Nicht mehr, als er es bereits tat. Mai war siebzehn Jahre jünger als er, erst dreiundfünfzig. Und schlank. Groß. Fast hübsch. Er versuchte, sich Mais Gesicht in Erinnerung zu rufen, wie er sich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung gerufen hatte. Aber es gelang ihm nicht. Er sah nur Nebel. Er hörte ihre Stimme in der Küche, sie summte und klapperte mit Tellern und Besteck. Es war nicht möglich, ein Gesicht vor sich zu sehen, das man so gut kannte. Wenn er darüber nachdachte, kam es selten vor, dass er ihr Gesicht in seinen Träumen sah. Das Gesicht seiner Mutter konnte er sich jederzeit in Erinnerung rufen, und das Gesicht seines Vaters, wie er im Sterben lag, bevor die Tür geschlossen wurde, und Alices Gesicht, wenn sie ihn anschrie, aber nicht Mais Gesicht. Was er aber konnte – wenn er die Augen schloss und sich an die Stelle in ihm vorwagte, die immer leuchtete –, war, sich die Freude in Erinnerung zu rufen, die sie in ihm weckte. Nicht nur, als sie frisch verliebt waren, sondern heute noch. Als würde er eine Lichtung im Wald entdecken
und die Walderdbeeren dort. Und ja, es gab einen Ort in ihm, der immer leuchtete. Einen unerklärlichen kleinen Funken in ihm, von dem er wusste, auch wenn nur wenige, die ihn kannten, Johan Sletten als einen Mann mit einem Funken beschreiben würden. Bei seinem Begräbnis wurde er als zuverlässig, sympathisch, witzig, klug und tüchtig beschrieben. Sein Interesse für Bücher, Filme und Musik wurde hervorgehoben, aber nicht übertrieben. Es war nicht so, dass von einer Leidenschaft gesprochen wurde, es wäre niemandem eingefallen, in Verbindung mit Johan ein Wort wie »Leidenschaft« in den Mund zu nehmen. Nicht einmal Mai, als sie zur Überraschung vieler bei Johans Beisetzung das Wort ergriff, vermittelte den Eindruck, dass sich die dreiundzwanzig Jahre währende Ehe um Leidenschaft gedreht habe. Worte wie Freundschaft, Fürsorge, Verständnis und Sicherheit wurden erwähnt. Vor allem Sicherheit. Mehrmals wiederholte sie das Wort Sicherheit. Es mag jetzt, wo alles vorbei ist, so aussehen, als wäre Johan der Einzige gewesen, der um die Existenz eines Funkens in ihm gewusst habe, eines kleinen blauen Funkens, eines JA! Und dafür wollte er kämpfen. Er wollte kämpfen, solange es ging. Es war nicht unmöglich, das alles zu überleben. Es war nicht unmöglich. Es gab viele Überlebensgeschichten. Johan hatte eine Liste über alle Überlebensgeschichten

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