Gnade
beruhigenden Stoff, den sie einem vor der Narkose geben, denkt er noch daran, an dem Krankenhemd zu ziehen. Warum deckt das Krankenhemd nicht das Wesentliche ab, das ganz Persönliche? Johan Sletten hat sich immer gewünscht, zu anderen Menschen einen gewissen Abstand zu halten. Doch jetzt liegt er hier mit entblöÃten Geschlechtsorganen wie eine Seeanemone.
Die Grüngekleideten beachten ihn nicht.
Die Grüngekleideten haben keine Gesichter, nur Hände, unendlich viele Hände, als seien sie alle Teil ein und desselben Körpers. Als würde man von den Händen eines riesigen, grünen Tintenfischs gepflegt, überlegt er und öffnet den Mund, um es ihnen zu sagen, aber aus dem Mund kommt kein Wort. Und in Kürze wird der Chirurg noch einmal das Messer bei ihm ansetzen, er wird sich Schicht um Schicht durch Haut, Knorpeln und Muskeln schneiden, und die ganze Zeit über wird Blut flieÃen. Obwohl hier
alles grün und kalt und still ist wie auf dem Meeresgrund. Und während die Anästhesistin â eine Stimme, niemals ein Gesicht, nur eine Stimme â sanft und unendlich zärtlich flüstert, jetzt sollst du schlafen, Johan, sieht er das etwas verrostete Brotmesser in der Küchenschublade (der zweiten von oben) im Haus in Värmland vor sich, er sieht Mai vor sich, die gerade gebacken hat, oder ist es vielleicht seine Mutter?
Vielleicht ist es Mutter?
Und wenn das Ganze vorbei ist, wird er den Grüngekleideten und all den anderen, die sich hier unten auf dem Meeresgrund aufhalten, von dem Geschmack von selbst gebackenem Brot mit Butter und frischer Walderdbeermarmelade erzählen.
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Johans Mutter hieà Agnes Lind. 1930 heiratete sie Johans Vater, Henry Sletten, einen vorsichtigen, gutmütigen Mann, dessen hervorstechendstes Merkmal es war, dass er gerne ins Kino ging, sogar (als die Zeit kam) in deutsche Farbfilme, für die Goebbels die letzten Worte der Heldin geschrieben hatte. Der Vater war Kontorist, die Mutter Sekretärin. Sie wohnten mit ihren beiden Kindern, Johan und Johans älterer Schwester Anne, in einer Dreizimmerwohnung in der Ole-Vigs-Gate im Stadtteil Majorstuen in Oslo. Die Kinder besuchten die Majorstuenschule, und ihr Leben verlief ohne allzu groÃe Dramatik. Als der
Frieden kam, konnte der zwölfjährige Johan seine Mutter leise in der Küche singen hören:
In meiner kleinen, kleinen Welt aus Blumen,
wird allzeit, allzeit das Glück verweilen.
Der eindrucksvollste Tag im Jahr für die Familie, jedenfalls für die Kinder und vor allem für den Jüngsten, Johan, war Heiligabend. Allein das Wort. Sag das Wort Heiligabend oft genug vor dich hin und es kommt dir so vor, als würde sich ein groÃer grüner Fächer entfalten, mit glitzernden, farbensprühenden Pinselstrichen bemalt.
Heiligabend wurde bei Johans GroÃmutter, der Witwe Lind, gefeiert, einer resoluten grauhaarigen Dame, die trotz ihres strengen ÃuÃeren und obschon ihre Weihnachtsgeschenke im GroÃen und Ganzen aus selbst gestrickten Wollschals und Strumpfhosen bestanden, ihre Familie vergötterte. Nachdem sie am Morgen des Heiligabends den Tisch mit einer Damasttischdecke, blauem Porzellan und dem guten Kristall mit kleinen Sprüngen in einigen Gläsern gedeckt hatte, nachdem sie die Kerzen am Weihnachtsbaum, den Johan und seine Schwester am Vorabend geschmückt hatten, angezündet und ihr schönstes, rotes Kleid angezogen hatte, ja, nachdem alles fertig gedeckt und geschmückt war, stellte sie sich ans Fenster, hinter die roten Gardinen ihrer Wohnung, die sie im Stadtteil Frogner
bewohnte, mit einem kleinen Glas Sherry in der Hand, und wartete darauf, dass die Gäste kamen.
Und wenn sie diese dann unten auf der StraÃe sah, in Winterschuhen und mit dicken Mänteln, Wollmützen auf dem Kopf und verpackten Geschenken unterm Arm, wie sie an einem schönen und erleuchteten Winterabend durch den Schnee stapften, flüsterte sie vor sich hin: Sieh nur. Dort. Ja, dort kommt meine kleine Familie!
Johan holte tief Luft. Jetzt kam es, alles auf einmal. Er hatte noch nicht einmal die Augen geöffnet. Aber alles kam, holterdipolter. Heiligabend, GroÃmutter. Und Mutter.
Johans Mutter, die bis zu ihrem Tod in ihrer kleinen, kleinen Welt gelebt hatte ... Er hörte ihre Stimme von ganz weit weg, von hinter der Tür, nicht der blau gestrichenen Schlafzimmertür, nicht der geschlossenen
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