Gnade
Schlafzimmertür, Vaters Himmelspforte, sondern von hinter der Küchentür, die wenigstens nicht anstöÃig oder sonstwie genannt werden konnte, allenfalls sicher, weil sie immer einen Spaltbreit offen stand. Und hinter der Küchentür einen Schimmer von Mutters Haaren, einen Hauch von Mutters Stimme.
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Die Kanüle in der Hand tat nicht weh, die Laken waren weiÃ, rein, steif, auf hundert Grad gewaschen in groÃen, einäugigen Waschmaschinen unten im Krankenhauskeller. Die Grüngekleideten gingen im Zimmer
ein und aus. Sein Körper war für sie kein Geheimnis. Sie hatten ihn aufgemacht, in ihn hineingeschaut, weit in ihn hinein, sich ein Organ nach dem anderen vorgenommen, hatten alles berührt, was klopfte, atmete und lebte. Doch das Unwesen hatten sie nicht berührt. Ja, sie hatten hier etwas genommen und dort etwas genommen. Aber nicht das Unwesen. Die Ratte. Denn es war eine Ratte, die sich in seinem Körper eingenistet hatte. Sie tanzte, winselte, paarte sich und presste vor der Nase der Grüngekleideten immer neue Ratten hervor.
Bald würde er von der Intensivstation verlegt werden. Zurück in das Zimmer mit den anderen Patienten. Mai war schon bei ihm gewesen, hatte auf der Bettkante gesessen, war seinem Blick begegnet, als er aufwachte, hatte seine Hand gehalten, ihm die Wange gestreichelt. Und nach einer Weile, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er ganz wach war, ganz präsent, hatte sie geflüstert, dass sie nichts hatten tun können. Die Grüngekleideten hatten ihn aufgemacht, in ihn hineingesehen und gefolgert, dass es nichts gab, was sie tun konnten.
Man konnte ihn nur wieder zumachen.
»Verstehst du, was ich dir sage, Johan?«, flüsterte sie.
»Ich glaube ja.«
»Ich wollte es dir selbst sagen. Ich wollte nicht, dass ...«
Johan nickte und sah zu ihr auf.
»Wusstest du, meine geliebte Mai, dass mein Vater die
Schlafzimmertür blau strich? Er nannte sie eine Himmelspforte.«
Mai beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Mund.
Er sog den Geruch ihrer langen Haare ein. Apfel. Oder vielleicht Birne. Auf jeden Fall war es eine Frucht.
Später wurde er in ein Sechsbettzimmer gerollt. Dort befand sich nur noch ein weiterer Mann. Einer, der hustete. Johan bat um einen Paravent. Er bekam einen Paravent. Um eine Morphiuminjektion brauchte er nicht zu bitten. Die bekam er ebenfalls.
Das war Mitte August. Drei Wochen später war er tot. Es kam für niemanden überraschend. Er hätte noch einen weiteren Monat leben können, vielleicht zwei. Das weià keiner. Aber das Unwesen hätte am Ende gewonnen, und die Schmerzen wären vielleicht erträglich gewesen, vielleicht aber auch nicht. Nach Mais Einschätzung jedenfalls waren Johans Schmerzen nicht länger erträglich. Denn eines Abends setzt sie sich zu ihm auf die Bettkante.
»Johan«, flüstert sie, aber er antwortet nicht, stöhnt nur ein wenig. Sie sieht ihn lange an. Zum Schluss macht sie ihre Tasche auf und holt zwei Spritzen heraus. Sie hat alles vorbereitet. Musste es. Sie darf nicht riskieren, dass sie von jemandem gestört wird, der vielleicht einen Aufstand macht, oder dass sie beim Suchen nach den Spritzen und Behältern den Mut verliert.
»Johan«, sagt sie noch einmal.
Er öffnet die Augen und sieht sie an, sieht sie direkt an.
»Es ist so weit ... nicht wahr?«, fragt sie.
Und er sieht sie an.
»Ich glaube, es ist so weit, Johan.« Dieses Mal ist es keine Frage.
Er sagt nichts. Aber sie kennt ihn. Sie beide haben eine gemeinsame Sprache. Eine ganz eigene Sprache. Das hat er selbst viele Male gesagt. Oder war sie es gewesen? Und es ist so weit.
»Ich liebe dich«, flüstert sie und er schlieÃt die Augen. Dann nimmt sie die Hand hoch, befeuchtet die Haut auf seinem Oberarm mit einem Wattebausch und verabreicht ihm die Spritze mit dem Schlafmittel. Sie sieht, dass er einschläft und keine Schmerzen hat. Dass es gut geht. Und dann verabreicht sie ihm die Spritze mit dem muskellähmenden Mittel Curacit. Sie wartet ab. So schnell und doch unmerklich. Keine Veränderung in seinem Gesicht. Das Geschwür auf seiner Wange blutet ein wenig. Aber nicht sehr stark. Was hatte sie eigentlich erwartet? Sie hat schon öfter Menschen sterben sehen. Es ist wie tief Luft holen. Sie nimmt sein Handgelenk in die Hand und fühlt seinen Puls. Es ist fast vorbei. Fast. Sie beugt sich über
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