Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Hals prangten lilaschwarze Flecken.
»Er sollte bei einem Freund übernachten. Ich hätte wissen müssen, dass er nach Hause zurückkommt. Cara schlief schon. Erinnerst du dich daran, wie felsenfest sie schlief? Wenn dieses Kind im Bett war, hatte ich mindestens zwölf Stunden für mich, bevor sie wieder die Augen aufschlug. Mack machte Überstunden und war in seinem Büro an der Uni und korrigierte Hausarbeiten. Auf diesen Abend hatte ich mich die ganze Woche gefreut.«
Sie stand auf. »Als Ehefrau und Mutter muss man darauf verzichten. Auf Zeit für sich selbst. Man darf über seine eigene Zeit nicht mehr verfügen, stimmt’s?«
Sie seufzte. »Jedenfalls hat er nichts gesehen. Ich hatte einen Freund zu Besuch. Ich habe mich bei ihm ausgeweint. Mein Freund wollte mich trösten. Das hat Michael gesehen, mehr nicht, ich schwöre es. Aber was für eine Wut der Junge in sich trug! Es war, als hätte sie sein Leben lang geköchelt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, auszubrechen. Mein Gott, warum war er so wütend auf mich?«
Im nächsten Moment rannte Marla durch den Wald, und Eloise schwebte hoch über ihr. Es war wie ein Satellitenbild, das sich nicht schärfer stellen ließ. Eloise sah Marla zwischen den Bäumen hindurchschießen, ohne sich ihr nähern zu können. Sie wurde von zwei hochgewachsenen Gestalten verfolgt; eine holte sie ein und riss sie zu Boden. Die zweite kam dazu, es kam zum Kampf. Marla rappelte sich auf und flüchtete in die Kapelle, während die Männer aufeinander einprügelten, bis einer der beiden leblos zusammensackte. Der andere nahm die Verfolgung wieder auf.
Das war alles. Als Eloise wieder zu sich kam, lag sie auf dem Waldboden, und Ray und Jones standen über sie gebeugt.
»Eloise, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Jones.
Ray zeigte sich weniger besorgt und half ihr auf.
»Was hast du gesehen?«, fragte er.
»Sie hat von einem Besucher gesprochen, der an jenem Abend da war. Ein Freund, kein Liebhaber«, sagte Eloise zu Ray. Sie kümmerte sich nicht darum, was Jones von ihr hielt, ob er ihr glaubte. Sie lehnte sich an Ray.
»Er war hier, Ray, er hat die Männer beim Graben beobachtet. Jetzt und hier, im richtigen Leben.«
»Wer?«
»Michael Holt. Ich habe ihn weglaufen sehen. Du musst ihn verfolgen«, sagte sie und zeigte in die entsprechende Richtung. Ray stürmte los und ließ sie neben Jones stehen.
»Alles in Ordnung?«, wiederholte der.
»Danke, es geht.«
Jones schaute Ray nach und dachte offensichtlich darüber nach, ihm zu folgen. Dennoch rührte er sich nicht vom Fleck. Es kamen immer mehr Leute. Eloise sah immer mehr Polizisten auf der Lichtung.
»Mir scheint, dass was immer Sie da tun, Ihrer Gesundheit nicht gerade zuträglich ist«, sagte Jones.
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Abgesehen von anderen Hellseherinnen und vielleicht ihrer Tochter hatte das noch niemand zu ihr gesagt. Mom, es bringt dich um. Du musst damit aufhören! Den anderen schien ihr Befinden egal zu sein. Die meisten Leute interessierte nur, was Eloise für sie tun konnte.
»Er missbraucht Sie«, sagte Jones. Er schaute immer noch in die Richtung, in die Ray verschwunden war. »Sie dürfen das nicht mehr zulassen.«
Sie wollte protestieren, hatte aber nicht die Kraft dazu.
»Er ist mein Freund.«
Sie spürte, dass Jones einen Kommentar abgeben wollte, aber dann wandte er sich ab, warf ihr noch einen kurzen Blick über die Schulter zu und gesellte sich zu den Neuankömmlingen. Eloise drehte sich um, verließ die Lichtung und ging zum Auto zurück. Marla würde sie nicht mehr heimsuchen. Sie konnte nichts mehr für sie tun.
SECHSUNDZWANZIG
M ichael rannte durch den Wald, Zweige schlugen ihm ins Gesicht, er stolperte über Baumwurzeln. Vor Anstrengung bekam er kaum noch Luft, und sein Herz hämmerte wie eine überhitzte Maschine. Als er endlich den Mineneingang erreichte, krümmte er sich schluchzend. Im nächsten Augenblick zog sich sein Magen zusammen, und er erbrach einen orangeroten Schwall, der mit lautem Spritzgeräusch auf dem Waldboden landete. Er keuchte, bis er keine Luft mehr bekam. Schließlich ließ er sich gegen die Holzbalken am Mineneingang sinken. Nach einer Weile beruhigte sich seine Atmung, und der Brechreiz ließ nach. Die kühle Luft, die aus der Mine strömte, umhüllte und tröstete ihn.
Sein ganzes Leben schon war er hierhergekommen. Sein Vater hatte ihm die Stelle gezeigt. Hier war er zum ersten Mal in den Untergrund hinabgestiegen, hier
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