Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
beigefarbene Armaturenbrett war an einer Stelle gerissen, und auf dem Beifahrersitz prangte ein Brandloch. An der Blende auf der Fahrerseite hatte Ray mit Gummibändern Fotos seiner Kinder angebracht. Es gehörte zu seiner Philosophie, ein Auto so lange zu strapazieren, bis es nicht mehr ging – dasselbe galt übrigens für Mordfälle, Beziehungen und Schuhe. Der Tachometer des alten, gebraucht gekauften Caddy stand bei zehntausend Meilen, weil er letztes Jahr umgesprungen war. Eloise streckte die Hand aus und berührte den Riss im Plastik.
»Was ist?«, fragte Ray. »Ich weiß, ich fahre eine Schrottkarre.«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Ich bin altmodisch, El. Ich halte von diesem Konsumscheiß nichts. Bei mir muss nicht alles neuer, besser, glänzender sein. Was ist mit den Sachen, die noch gut in Schuss sind, aber auf der Müllkippe landen? Ich bemühe mich, so wenig wie möglich zu brauchen.«
»Altmodisch ist in«, sagte Eloise und unterdrückte ein Lächeln. »Bei mir rennst du damit offene Türen ein.« Sie warf einen zweiten Blick in den Rückspiegel in der Hoffnung, Marla wäre verschwunden. Leider hatte sie sich geirrt.
»Keiner hat mich so geliebt wie Michael«, sagte Marla. »Nicht einmal Mack. Schon als Baby hat Michael niemanden gebraucht außer mir. Ich dachte immer, das legt sich irgendwann. Aber nein.«
Eloise konnte sich daran erinnern, wie der kleine Michael jedes Mal weinte, wenn seine Mutter aus dem Haus ging, selbst wenn er wusste, dass sie nur kurz zum Einkaufen fuhr oder eine Runde joggen ging. Das war nicht normal. Cara hingegen war pflegeleicht. Auch sie machte erst einmal Theater, ließ sich dann aber schnell mit Malstiften oder ein paar Butterkeksen ablenken. Michael blieb am Fenster sitzen und schmollte, bis Marla zurück war. Als Eloise das letzte Mal auf ihn aufgepasst hatte, war er elf oder zwölf Jahre alt gewesen, viel zu alt für ein solches Verhalten.
»An jenem Abend war er vierzehn«, sagte Marla. »Viel zu groß für sein Alter. Er war damals schon größer als Mack. Er hatte keine Freunde. Am liebsten blieb er zu Hause, bei mir. Ich habe mich in meiner Ehe so einsam gefühlt, dass ich froh war, ihn bei mir zu haben. War das falsch?«
Da sah Eloise die dunkellila Würgemale an Marlas Hals. Reflexhaft berührte sie ihren eigenen Hals.
»Wo starrst du hin?«, fragte Ray.
»Nirgendwohin«, antwortete Eloise und schaute auf ihre Knie. Ihre Beine sahen wie Äste aus, dünn und knorrig schauten sie unten aus der Regenjacke hervor.
»Er kann mich nicht gehen lassen«, sagte Marla.
Seit wann ließ Eloise sich davon auffressen? Nicht einmal ihr Hausarzt wusste, was ihr eigentlich fehlte. Sie bekam Medikamente gegen die Schmerzen und die weichen Knie. Ein Arzt hatte behauptet, ihre Visionen ließen sich auf minimale Schlaganfälle oder transitorische ischämische Attacken zurückführen. Also nahm Eloise weitere Pillen ein, um den Anfällen vorzubeugen – natürlich vergebens. Sie durfte nicht mehr Auto fahren und tat es nur im Notfall, wie zum Beispiel an dem Nachmittag, als sie bei Jones Cooper gewesen war. Ihre Unterleibsschmerzen waren als Reizdarm diagnostiziert worden. Dazu kamen die Beruhigungstabletten, die sie zum Durchschlafen brauchte. Obwohl sie kaum etwas aß, waren ihre Cholesterinwerte bedenklich hoch. Auch das wurde medikamentös behandelt.
»Mom, nimmst du all diese Tabletten?«, hatte Amanda letztes Jahr gefragt. Sie hatte Eloise besucht, ohne die Enkel. Ein Pflichttermin, der Eloise im Grunde mehr kränkte, als wenn Amanda sie gar nicht besucht hätte. Eloise konnte es kaum ertragen, sich selbst durch Amandas Augen zu sehen. Aber ihre Tochter war bemüht und legte großen Wert darauf, keinen Muttertag zu vergessen und Eloise Geschenke, Karten und Blumen zu schicken. Die Enkelkinder malten Bilder für sie. Beiden war stillschweigend klar, dass Amanda die Besuche hinter sich brachte wie den jährlichen Zahnarzttermin; gefürchtet, nicht zu vermeiden und im besten Fall ganz kurz.
Ja, sie nahm all diese Tabletten, einige regelmäßig, andere nach Bedarf. In letzter Zeit hatte sie sich gefragt, was passieren würde, wenn sie die Medikamente einfach absetzte. Vielleicht würde dann alles, was mit ihr nicht stimmte, ungebremst auf sie einprasseln und sie vernichten.
Sie warf einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass Marla verschwunden war. Sie befanden sich nun auf der Zufahrtsstraße zum Wald, schmal und nicht asphaltiert, eigentlich keine Straße,
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