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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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weinte oder Paula hing am Telefon. Normalerweise roch es nach Abendessen.
    Als Cole im Türrahmen stehen blieb und das stille, leere Wohnzimmer betrachtete, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Es war wie an dem Tag, als er seine Mutter anrufen wollte und feststellen musste, dass der Anschluss nicht mehr existierte. Wie an seinem Geburtstag, der verstrichen war, ohne dass sie angerufen oder geschrieben hatte. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Obwohl sein Vater ihm das erzählt hatte, konnte Cole sich nicht vorstellen, dass sie einen neuen Freund hatte, der ihn ablehnte. Aber andererseits, warum sollte sein Vater ihn anlügen?
    Cole schloss die Tür zum Hauswirtschaftsraum. Wieder kam ihm in den Sinn, einfach zu verschwinden. Er stand nicht unter Beobachtung. Solange er Paula eine Nachricht hinterließ und spätestens um acht zurück war, um seine Hausaufgaben zu erledigen, wäre ihm niemand böse. Trotzdem betrat er den Eingangsbereich.
    »Paula?«
    Nichts.
    »Dad?«
    Er hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend, wie so oft seit dem Tag, als er in sein altes Zuhause zurückkehren wollte und es ausgeräumt vorgefunden hatte. Alle ihre Sachen – seine Sachen – waren verschwunden. Er hatte vor seinem Vater nicht weinen wollen. Eigentlich konnte er sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geweint hatte. Aber dann hatte es ihn überwältigt wie eine Welle, wie einen Brechreiz. Er hatte einfach zu schluchzen angefangen.
    »Wo ist sie?«, hatte er gefragt. Er klang wie ein Kleinkind, aber er konnte nichts dagegen tun. »Wo ist sie hingegangen?«
    »Cole, mein Junge, es tut mir leid«, hatte sein Dad geantwortet, »aber ich weiß es nicht. Aber mach dir keine Sorgen. Du kannst bei uns wohnen, bis wir sie gefunden haben.«
    Leider hatte sich dieses entsetzliche, haltlose Gefühl nicht mehr aufgelöst. Manchmal konnte Cole es ignorieren, wenn er zum Beispiel mit Jolie und Jeb kiffte, wenn er an Willow Graves dachte oder mit Claire und Cam spielte. Aber sobald es still und dunkel wurde, dehnte sich das Gefühl in ihm aus und drohte, ihn zu verschlingen. Vielleicht konnte Paula die Dunkelheit aus diesem Grund nicht leiden. Manchmal sah er ihr Gesicht, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und dann fragte er sich, ob sie von der gleichen Art Trauer gequält wurde.
    Auf der Treppe stieg er über Cams Roboterhund, ein Feuerwehrauto und einen Güterzugwaggon hinweg, der zur Modelleisenbahn gehörte. Er hörte Kevins Stimme. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand einen Spaltbreit offen, Licht fiel in den Flur. Cole blieb stehen und lauschte.
    »Es tut mir leid, Baby. Es tut mir leid. Ich werde im Büro aufgehalten. Ich mache es wieder gut!«
    Cole wusste, dass Kevin nicht mit Paula telefonierte. In diesem Tonfall hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Cole stieß die Tür auf. Sein Vater saß an dem wuchtigen Schreibtisch aus Walnussholz, hatte den Kopf in die Hand gestützt und das Handy am Ohr.
    »Dad?« Irgendwie klang das Wort in Coles Ohren immer seltsam falsch. Am liebsten hätte er seinen Vater »Kevin« genannt, aber der bestand auf »Dad«. Cole fügte sich, um nicht unhöflich zu sein.
    Sein Vater schaute erschreckt auf, versuchte aber sogleich, ein Lächeln aufzusetzen. Er hob einen Finger in die Höhe.
    »Schätzchen«, sagte er, »ich muss jetzt auflegen. Lass uns später darüber reden.«
    Cole hörte das schrille Kreischen der Frau am anderen Ende der Leitung. Kevin beendete das Gespräch. Cole erinnerte sich, wie seine Mutter seinen Dad früher angeschrien hatte. Er sah sie immer noch weinend am Küchentresen stehen. Er wusste nicht mehr, worüber seine Eltern damals gestritten hatten. Früher hatte er immer gedacht, sein Vater besuche ihn nie, weil seine Mutter den armen Kerl ständig zur Minna machte. Erst in letzter Zeit hatte er diese Auffassung hinterfragt. Und er hatte sich gefragt, warum seine Mutter wohl so gebrüllt hatte.
    »Wie war’s in der Schule, Kumpel?«
    Im Licht des Computermonitors sah Kevin furchtbar bleich und aufgedunsen auf. Er hatte einen Kratzer im Gesicht, eine dunkle Linie, die sich von unterhalb des Auges bis zu seinem Mundwinkel zog. Blut?
    »Dad, was ist los?«, fragte Cole. »Wo sind Paula und die Kinder?«
    Anstatt zu antworten, betrachtete sein Vater ihn mit einem merkwürdigen, verzerrten Lächeln.
    »Äh, Cole«, sagte er dann und zeigte auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch, »setz dich, okay?«
    Cole ließ sich niedersinken. Die Uhr im Bücherregal zeigte vier Uhr an. Cole

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