Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
verblasst, sodass man von Weitem THE RE AL MOTEL las.
Ein Glöckchen kündigte Jones an der stillen, aufgeräumten Rezeption an. Es war kühl, die Heizung lief noch nicht. Eine große, stämmige Frau mit grauen Löckchen saß hinter dem Tresen und tippte auf einer Tastatur herum. Sie blickte nicht sofort auf. Jones sah sich um, künstliche Pflanzen. Ein abgewetztes Zweiersofa, ein niedriges Tischchen. Ein Zeitungsständer mit zerfledderten, uralten Frauenzeitschriften. An den Wänden mit den dunklen Holzpaneelen hingen Schnappschüsse von spielenden Kindern und Zertifikate, die die Qualität und Güte des Motels belegten. Dazwischen stümperhaft gemalte Landschaftsansichten. Der Teppich war fleckig und abgetreten, sodass man richtiggehend einen Trampelpfad von der Tür bis zum Rezeptionstresen erkennen konnte.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Sie hielt die Augen immer noch auf den Monitor gerichtet.
»Ich suche eine Freundin. Angeblich wohnt sie hier. Robin O’Conner.«
Die Frau hob den Kopf, schob sich die Brille auf die Nase und musterte ihn kühl.
»Polizei?«, fragte sie. Sie war zweifellos die Besitzerin, denn sie strahlte Autorität aus. Was für Jones Vor- und Nachteile haben konnte.
»Nein«, antwortete er.
»Im Ruhestand«, sagte sie. Es war nicht als Frage gemeint.
Jones zuckte träge die Achseln. Einer Frau wie ihr begegnete man am besten mit absoluter Ehrlichkeit.
»Ich tue einer Freundin einen Gefallen. Robin hat einen Sohn, der sie sehr vermisst.«
»Sie können eine Nachricht hinterlassen. Ich werde sie weiterreichen.« Die Frau wandte sich wieder dem Computer zu. Auf ihren Brillengläsern tanzten blaue und weiße Flecken. Sie war in einem sozialen Netzwerk unterwegs. Seltsam, wie fasziniert alle davon waren. Faszinierter als vom richtigen Leben, dachte Jones.
Er wartete. Trat an die Wand, studierte die Zertifikate. Früher, als Polizist, hatte er das oft getan, um die Leute aus der Fassung zu bringen. Waren die Zertifikate gefälscht oder abgelaufen, wurden die Leute nervös, fingen an zu plaudern.
»Mein Laden ist sauber«, sagte sie. Jones drehte sich um und bemerkte, dass die Frau ihm einen strengen Blick zuwarf. Er ärgerte sie. Sie wollte, dass er verschwand. Sehr gut.
»Das sehe ich, Madam«, sagte er höflich. Ein bisschen zu höflich, es klang fast scherzhaft.
»Wie spät ist es?«, fragte sie.
Jones warf einen Blick auf seine Uhr, eine alte Timex, die er seit dem College trug.
»Kurz vor Mittag.«
Sie schaute aus dem Fenster. Jones folgte ihrem Blick; auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag ein kleines Diner.
»Sie wird gleich da drüben sein, wenn sie nicht schon angefangen hat. Sie macht die Mittagsschicht.«
Robin O’Conner musste schwarz dort arbeiten, andernfalls wüsste Kellerman davon. Die Frau stemmte sich aus dem Sessel hoch und seufzte erleichtert. Sie humpelte leicht, als sie durch eine Schwingtür hinter dem Tresen trat. Vermutlich war Jones damit entlassen. Er könnte gehen, aber seine Neugier hielt ihn zurück.
»Gestern haben Sie ihre Kreditkarte nicht akzeptiert«, sagte er so laut, dass sie ihn im Hinterzimmer hören konnte. Schweigen. Er glaubte schon, keine Antwort mehr zu bekommen, als sie im Türrahmen erschien.
Sie runzelte die Stirn.
»Ich dachte, Sie wären kein Polizist?«
»Bin ich auch nicht.«
Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Das Brillengestell hatte rote Druckstellen hinterlassen.
»Manche Leute haben es verdient, dass man ihnen hilft. Finden Sie nicht auch?«
»Ja«, sagte er, »aber in Ihrem Geschäft können Sie sich das bestimmt nicht zu oft leisten.«
»Das stimmt. Deswegen lasse ich mich auch selten darauf ein. Aber Robin ist in Ordnung. Sie ist nicht wie meine anderen Gäste.«
»Könnten Sie das erläutern?«
»Überzeugen Sie sich selbst.«
Als sie zum zweiten Mal durch die Tür verschwand, wusste Jones, dass sie nicht wiederkommen würde. Solche Menschen mochte er – zuverlässig, selbstsicher. Sie verfügten über eine ausgeprägte Menschenkenntnis und gaben die besten Zeugen ab. Er erinnerte sich, was Paula über Cole gesagt hatte, dass er ein guter Junge sei, dass er geliebt und anständig großgezogen wurde. Das passte zu der Einschätzung, die die alte Frau über Robin O’Conner abgegeben hatte.
Er erkannte sie sofort. Ihr Sohn hatte ihre Schönheit geerbt, das rabenschwarze Haar und die mandelförmigen Augen. Sie wirkte übernächtigt und war viel zu dünn; deutlich zeichneten sich
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