Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
auf. Sie kochte ihm einen Tee.
»Aus den zahnärztlichen Unterlagen geht hervor, dass die Knochen von Marla Holt stammen«, sagte er. Er hatte erschöpft in einem Sessel Platz genommen. Eloise reichte ihm ein Handtuch, mit dem er sich abrubbelte.
Sie hatte es längst gewusst. Nicht, dass es in ihrem Beruf jemals absolute Gewissheit gab, aber in diesem Fall war sie sich ziemlich sicher gewesen.
»Und Michael?«
Ray zuckte die Achseln.
»Jetzt bin ich zwei Nächte durch diesen gottverdammten Wald gelaufen und habe seinen Namen gerufen. Wenigstens konnte ich heute Abend Chuck Ferrigno überzeugen, einen Suchtrupp loszuschicken. Marla Holts Leiche ist gefunden, nun wird ermittelt. Michael wird zumindest als Zeuge gesucht.«
Eloise setzte sich zu Ray.
»Eloise, hat er sie ermordet? Er war nur ein Junge. Hat Michael Holt seine eigene Mutter umgebracht?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Was glaubst du?«
Eloise schwieg. Ray kannte sie; sie spekulierte nicht. Sie hatte ihm alles gesagt, was sie von Marla erfahren hatte. Nun durften sie nicht vorschnell urteilen.
»Wie konnte ich das übersehen? Es kam mir nicht einmal in den Sinn.«
»Sei nicht so streng mit dir.«
Der Teekessel fing an zu pfeifen, und Eloise stand auf, um den Tee aufzubrühen.
»Er hat sie mit einem anderen Mann überrascht, ist ausgerastet und hat sie getötet. Er hat sie vergöttert und konnte mit der Tat nicht leben, deswegen hat er die Erinnerung verdrängt.«
Eloise wusste, dass Ray nur laut nachdachte.
»Da war noch ein zweiter Verfolger«, erinnerte sie ihn. Sie betrachtete die dampfende Teekanne, die blau-weißen Blümchen auf dem Porzellan. Ein Geschenk von ihrer Tochter. Eloise vermisste sie so sehr. Plötzlich wurde der Schmerz fast unerträglich. Eloise würde sie anrufen. Sie mussten reden. Vielleicht sollte sie einfach losfahren und ihre Tochter besuchen, Einladung hin oder her; vielleicht würde Amanda sich leichter tun, wenn sie nicht in dieses Haus zurückkommen musste, in dem immer noch die Gespenster der Vergangenheit lebten.
»Mack.« Rays Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Sie wollte für ihn da sein, andererseits gingen ihr Jones Coopers Worte nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten sich in ihr Herz gebohrt und sie zum Nachdenken gebracht, wer sie war, was sie tat und in welchem Verhältnis sie zu Ray stand, den sie ehrlich liebte.
»Hat am fraglichen Abend gearbeitet«, antwortete sie.
»Vielleicht ist er früher nach Hause gekommen? Vielleicht hat er Michael all die Jahre gedeckt und darüber den Verstand verloren? Ein vierzehnjähriger Junge wäre ohne fremde Hilfe kaum in der Lage, seine Mutter zu begraben.«
»Vielleicht nicht.« Heute Abend wollte Eloise nicht mehr darüber nachdenken.
»Michael war überzeugt, die Antwort im Haus seines Vaters zu finden«, fuhr Ray fort. »Außerdem glaubte er, Claudia Miller wisse mehr, als sie damals gesagt hat.«
»Dann solltest du sie noch einmal besuchen«, schlug Eloise vor, »und ihr vom Knochenfund berichten.«
»Meinst du, sie würde auspacken? Jetzt, wo wir Marla Holt gefunden haben?«
Eloise hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass sie sich über das Thema nicht mehr unterhalten wollte – nicht über den Tod, den Mord, nicht über den Schmerz und das Leid, die jahrelangen Lügen.
»Kann sein«, sagte sie.
Ray schien keine Ermunterung mehr zu benötigen; er hatte bereits den Zustand der Ruhelosigkeit erreicht. Er würde erst nachgeben, sich erst beruhigen, wenn er alle Möglichkeiten ausprobiert hatte. Und dann würde er grübeln. Karen hatte gut daran getan, ihn zu verlassen. Niemand hatte ihm je so viel bedeutet wie seine Arbeit, nicht einmal Eloise.
Er stand auf, um sich seinen Mantel aus der Waschküche zu holen. Im nächsten Augenblick war er an der Tür. Bevor er ging, warf er ihr noch einen Blick zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, die Hand schon am Türknauf.
Eloise machte einen Schritt auf ihn zu.
»Ray, weißt du, ich habe mir überlegt, einen kleinen Urlaub zu machen. Vielleicht fahre ich nach Seattle und besuche Amanda und die Kinder.«
Sein Gesicht veränderte sich, er wirkte traurig, beinahe zerknirscht. Sie hatte gedacht, er würde protestieren, sie an die lange Warteliste erinnern, an ihre Pflicht, allen zu helfen, die nach Antworten suchten und Gerechtigkeit wollten. Aber nein.
»Klingt toll, Eloise«, sagte er, lächelte freundlich, kam noch einmal zurück und nahm vorsichtig ihre Hand. »Das solltest du unbedingt tun. Es täte
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