Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
den Regen. Er bewegte sich darauf zu. Er wusste selbst nicht mehr, seit wann er in diesem Nebel herumwanderte, sich in den Schächten versteckte, die Zeit verdöste. Er hatte sich von Wasserflaschen und Müsliriegeln ernährt, die in seinem Rucksack gesteckt hatten. Er war glücklich, in der dunklen Stille zu sitzen, wo niemand ihn beobachtete, niemand sprach. Die Dunkelheit wollte nichts von ihm, und sie verurteilte ihn nicht. Sie kümmerte sich nicht darum, was er tat oder unterließ, und die Vergangenheit war ihr egal.
Er hörte wieder Geschrei, das auf einmal wie Vogelgezwitscher klang. Aus derselben Richtung kam das Rauschen des Baches, das ihm plötzlich unglaublich laut erschien. Er lief weiter auf die Stimmen zu. Wann hatte er den Mineneingang aufgebrochen, um sich in der Unterwelt zu verstecken? Vor einem Tag, vor zwei Tagen, vor einer Woche? Dort unten verlor die Zeit an Bedeutung, so wie damals, als er die Schächte mit seinem Vater erkundet hatte. Sie waren am Tage abgestiegen und heraufgekommen, als es schon dunkel war. Es war Michael vorgekommen, als wären sie in ein Raumschiff gestiegen und auf einem fernen Mond gelandet.
Auf seiner Internetseite bezeichnete Michael sich als Kletterer und Höhlenforscher. Er gab an, als Führer und Berater zu arbeiten. Ehrlich gesagt war und tat er nichts dergleichen. Er hatte sich angeboten, aber niemand hatte ihn über seine Webseite gebucht. Er besaß keine spezielle Ausbildung, war lediglich dem Vater auf dessen Erkundungstouren gefolgt. Michael war ein Loser, ein Taugenichts. Es war ihm nie gelungen, sich über – oder unter – der Erde ein eigenes Leben aufzubauen.
Nach dem College hatte Michael einen Aushilfsjob nach dem anderen übernommen. Zunächst hatte er bei einer Entwicklerfirma als Administrator gearbeitet, wo er gelernt hatte, Internetseiten zu bauen und zu pflegen. Er war nicht unbegabt, besaß aber keinerlei Sozialkompetenz. Er war unfähig, mit anderen zu kommunizieren. Manchmal verfiel er während eines Meetings oder gar im Büro seines Chefs in Schockstarre. Eines Morgens hatte er sich nicht mehr überwinden können, zur Arbeit zu gehen.
Er versuchte sich an anderen Aufgaben. Eine Zeitlang arbeitete er als Haustechniker in einem Bürogebäude, dann als Aushilfe im Supermarkt. Am längsten hatte er es als Nachtwächter ausgehalten. Dort musste er niemanden sehen und mit niemandem sprechen, von gelegentlichen Telefonaten oder Besuchen des Chefs abgesehen, der ebenso wortkarg war wie Michael. Er schritt die langen, dunklen, menschenleeren Korridore entlang, während er eine innere Ruhe verspürte. Er hatte Zeit für seine Webseite, den Ort, an dem er alles sein konnte, was er im richtigen Leben nicht war. Er nutzte die Nacht wie einen Schutzmantel.
Als er auf der Flucht vor Ray in das Bergwerk eingedrungen war, hatte er nicht vorgehabt, jemals wieder herauszukommen. Aber nach einer Weile so ganz allein mit den Dämonen brauchte er wieder frische Luft. Und dann war er im Wald verloren gegangen – in jeder Hinsicht. Er hörte Geschrei und orientierte sich daran. Er musste irgendjemandem erzählen, was er getan hatte. Es war an der Zeit, zu beichten und bestraft zu werden.
Die Dunkelheit hatte zu ihm gesprochen und ihm zugeflüstert, dass er in Sicherheit sei und sich erinnern dürfe, dass es höchste Zeit sei. Und dann sah er sich plötzlich selbst, wie er auf seinem Fahrrad durchs Viertel fuhr. Er kam so schnell und lautlos voran wie ein Geist. Die schwarze Nacht schimmerte silbrig. Er erreichte sein Elternhaus und ließ sein Rad los, das mit verdrehtem Vorderreifen auf den Rasen fiel.
Er spürte die seltsamen, neuen Schwingungen im Haus. Er hörte Musik. Er hörte die Stimme seiner Mutter. Ihm wurde klar, dass er nicht hier sein sollte, dass er besser nicht zurückgekommen wäre. Aber die unbekannten Geräusche zogen ihn an … die zärtliche Stimme eines Mannes, der gurrende Tonfall der Mutter, den Michael nie zuvor gehört hatte. Und als er das hell erleuchtete Wohnzimmer betrat, sah er seine Mutter in den Armen eines Mannes, der nicht sein Vater war.
In seinem Inneren tat sich ein hässlicher, schwarzer Riss auf. Warum? Er wusste es selbst nicht. Er zog sich in das Niemandsland in seinem Inneren zurück, wo es nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren gab und sein Keuchen. Der Mann, ein gesichtsloser Fremder, stürzte davon. Michael war mit seiner Mutter allein.
»Michael«, sagte sie, »warum siehst du mich so an? Das war nur
Weitere Kostenlose Bücher