Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
legte eine Hand an die kleine Fensterscheibe der Garage und schaute hinein. Auch hier kein Auto – weder der Mercedes, den Paula Carr fuhr, noch der alte BMW des Jungen. Welchen Wagen Carr fuhr, wusste Jones nicht.
Er drehte am Türknauf, und als er merkte, dass nicht abgeschlossen war, trat er ein. Als Polizist hätte er das nur getan, wenn er Sichtkontakt gehabt hätte, wenn Gefahr im Verzug gewesen wäre. Wobei er sich im Notfall wohl darauf berufen könnte. Als Polizist hatte er sich peinlich genau an die Vorschriften gehalten, wozu hätte er den Job sonst gemacht? Als Privatdetektiv wäre er nicht mehr daran gebunden – er müsste nicht über Durchsuchungsbefehle und zulässige Vorgehensweisen nachdenken, über illegal beschaffte Beweismittel, die zur Einstellung des Verfahrens führten. Natürlich war es jetzt möglich, dass er wegen Einbruchs verhaftet wurde.
Als sein Handy plötzlich klingelte, bekam er fast einen Herzinfarkt; das Adrenalin schoss in seinen Blutkreislauf. Merken: Vor dem illegalen Betreten eines Hauses das Handy ausschalten. Jones kannte die Nummer auf dem Display nicht.
Er verließ die Garage und lief zum Auto, um das Gespräch anzunehmen. Der Regen hatte nachgelassen und sich zu einem Nieseln abgeschwächt.
»Jones Cooper.«
»Jones, hier spricht Henry.« Er klang aufgebracht. »Tut mir leid, dass ich dich stören muss, aber wir haben ein Problem.«
Henry erzählte, dass Willow Graves verschwunden sei.
»Ich bin gerade beschäftigt«, sagte Jones, was eigentlich nicht stimmte. Die Carrs waren nicht zu Hause. Er konnte Paula Carr nicht weiterhelfen und steckte wieder einmal in einer Sackgasse. Am besten, er fuhr zu Elizabeth und anschließend nach Hause.
»Es ist meine Schuld«, sagte Henry im Flüsterton. Er erzählte Jones von seinem Besuch bei Bethany Graves und von Willows trotziger Reaktion. Als Jones im Auto saß, nahm der Regen wieder zu.
»Du glaubst, sie ist bei diesem Wetter zu Fuß getürmt?«
»Vielleicht nicht.«
»Hat sie Freunde mit eigenem Auto?«
Im selben Moment fiel Jones ein, dass Willow und Cole sich kannten. Cole hatte ein eigenes Auto, und er war nicht zu Hause. Seltsamer Zufall. Er suchte ohnehin nach dem Jungen; es wäre von Vorteil, ihn vor seinem Vater zu finden und ungestört mit ihm über seine Mutter zu sprechen.
»Beth hat Jolies Mutter angerufen, und die hat gesagt, Jolie sei mit Cole Carr unterwegs. Wir vermuten, dass die drei zusammen sind.« Jones hörte Bethany im Hintergrund reden, konnte aber nichts verstehen. »Wir haben schon bei Pop’s Pizza und im Hollows Brew angerufen, aber da waren sie nicht.«
»Okay«, sagte Jones. »Glaubst du, sie sind wieder dort hingefahren? In den Wald?«
»Kann sein, wenn sie von den Knochen gehört haben«, sagte Henry. »Bethany hält es für möglich. Wir fahren jetzt hin.«
»Alles klar«, sagte Jones. Er warf einen Blick auf die Uhr, es war noch früh, gerade erst halb neun. »Wir treffen uns am Friedhof.«
»Danke, Jones.«
»Seit wann ruft der Kerl mich an?«, murmelte Jones. Ehrlicherweise musste er sich eingestehen, dass es ihn freute. Außerdem verschaffte es ihm einen kleinen Aufschub von der störrischen Alten. Als er losfuhr, musste er kurz an die düstere Prophezeiung von Eloise denken. Er verdrängte sie schnellstmöglich. Als er die Landstraße erreichte, hatte er sie komplett vergessen.
Sie schwamm, das Wasser fühlte sich angenehm an. Wann war sie das letzte Mal untergetaucht, in einen kristallklaren Pool gesprungen? Wann hatte sie das Salz des Meeres geschmeckt? Früher waren sie und Alfie oft an den Strand gefahren, hatten unter dem großen, blau-grün gestreiften Sonnenschirm gelegen. Sie hatten Bier aus der Kühltasche getrunken, dem Kreischen der Möwen gelauscht und gelesen. Sie waren zusammen in den kalten, grauen Atlantik gesprungen. Das war, bevor die Kinder kamen. Als sie noch zu zweit in einträchtigem Schweigen beieinander sitzen konnten.
Das Wasser war kalt und trüb. Sie stellte fest, dass sie nicht zu atmen brauchte; sie ließ sich unter Wasser treiben, während ihre Finger den sandigen Boden streiften, Steine und Wurzeln. Ein Fluss, das war es. Sie fühlte sich so rein, spürte ein frisches Prickeln auf der Haut … wann hatte sie zum letzten Mal ein solches Vergnügen empfunden? Wofür hatte sie sich all die Jahre bestraft?
Andere Hellseher, von denen sie viel gelernt hatte, hatten sie gewarnt. Vergiss nicht zu leben. Wenn man zu viel Zeit mit den Toten verbringt,
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