Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
schon? Was war er ohne seine Mutter?
Er wäre zur Besinnung gekommen, wenn sie nicht ein zweites Mal vor ihm davongelaufen wäre. Sie sprang aus einer dunklen Ecke und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu kommen. Er schnappte nach ihr und legte seine Hände um ihren Hals. Unter seinen starken Fingern fühlte er sich unglaublich zart und zerbrechlich an.
Er schaute sich wie aus weiter Ferne zu, wie von einem anderen Planeten aus. Er sah, wie sie zappelte und sich wand. Er hörte das furchtbare Röcheln und wie ihre Schläge und Tritte immer schwächer wurden. Er sah, wie ihre weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen hervortraten. Und dann wurde ihr Blick leer. Ihr Körper erschlaffte, und ihre ganze Widerstandskraft, ihr Leben zerrann ihm zwischen den Fingern. Das passierte nicht ihm. Es passierte überhaupt nicht. Es war ein Traum, ein schrecklicher Albtraum. Es war einem anderen passiert, einem anderen Michael – einem Michael, den es normalerweise nicht gab.
Er wusste nicht mehr, was danach geschah. Selbst jetzt, wo er durch den Regen irrte und ihm dämmerte, was er seiner Mutter angetan hatte, konnte er sich an den Rest jener Nacht nicht erinnern. Wie hatte sein Vater reagiert? Warum hatte Mack alles vor der Polizei verheimlicht, und auch vor ihm, Michael? Warum? Er würde auf diese Frage keine Antwort mehr bekommen, und niemals würde er wiedergutmachen können, was er seiner Mutter angetan hatte. Es würde ihm niemals wieder möglich sein, im Licht zu leben.
In dem Augenblick sah er sie davonlaufen.
»Geh nicht«, rief er, »ich wollte nur, dass du bleibst!«
Er stellte sich ihr in den Weg. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn in Todesangst an. In gewisser Hinsicht begriff er, dass sie nicht seine Mutter war. Sie war einfach nur ein Mädchen, eine Fremde, die Marla nicht das Wasser reichen konnte, keine Frau konnte das. Sie stieß einen entsetzten Schrei aus, der ihm durch Mark und Bein ging. Und dann versuchte sie zu fliehen, stolperte in ihrer Panik über eine Wurzel, fiel beinahe hin. Diesmal packte er sie nicht. Er würde sie gehen lassen, so wie er es damals hätte tun sollen.
»Schwere Regenfälle im gesamten Sendegebiet«, verkündete der Radiomoderator. »Uns wurden die ersten überfluteten Straßen gemeldet. Einige Landstraßen wurden bereits gesperrt.«
Jones konnte es nicht leiden, wenn die Nachrichtensprecher sich an den schlechten Nachrichten ergötzten. Sie gaben sich ernst und nüchtern, aber er kaufte es ihnen nicht ab. »Zum letzten Mal ist der Black River vor fünfunddreißig Jahren über die Ufer getreten, aber die Behörden warnen vor einem steigenden Wasserpegel. Leute, ich muss es wohl kaum aussprechen, sage es aber trotzdem: Verlasst das Haus heute Abend nur, wenn es unbedingt nötig ist.«
Jones parkte seinen Geländewagen vor dem Haus der Carrs, stieg aber nicht aus. Er erinnerte sich an die Zeit, die er mit Warten und Observieren zugebracht hatte, manchmal allein, manchmal mit einem Kollegen, an die endlosen Stunden. Als Ricky noch klein gewesen war, hatte er die Stille und Einsamkeit regelrecht genossen. Manchmal wiederum war es unangenehm, mit den eigenen Gedanken allein zu sein. In jenen leisen, leeren Momenten meldete sich alles zu Wort, woran er lieber nicht denken wollte, forderte seine Aufmerksamkeit ein.
Maggie hatte schon zwei Mal angerufen, das erste Mal, um zu erfahren, wann er nach Hause käme. Sie machte sich Sorgen um ihn, wegen des Unwetters. Dann hatte sie angerufen, um ihn zu bitten, bei ihrer Mutter vorbeizufahren. Die Handys hatten noch Empfang, aber in einigen Gegenden waren die Telefonanschlüsse ausgefallen. Bei Gewitter war Elizabeths Anschluss einer der ersten, die nicht mehr funktionierten. Störrisch, wie sie war, weigerte sie sich natürlich, ein Handy anzuschaffen – was das Leben von Maggie und Jones um einiges erleichtert hätte.
»Kein Problem«, hatte er gesagt, »wird gemacht.«
»Und fang keinen Streit mit ihr an.«
»Niemals!« Das hatte er tatsächlich nicht vor – es sei denn, Elizabeth machte den Anfang. Jones’ Verhältnis zu seiner Schwiegermutter war schon immer zwiespältig gewesen, aber seit letztem Jahr hatte es sich noch verschlechtert. Sie überstanden kaum ein Abendessen, ohne sich zu zanken. Noch eine Sache, die Maggie ihm übel nahm, auch wenn sie wusste, dass es nicht nur seine Schuld war.
»Selbst wenn sie einen Streit vom Zaun brechen will«, sagte Maggie. »Und versuch bitte, sie zu überreden, mit zu
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