Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Vielleicht hat sie gelogen, als sie von einer schwarzen Limousine sprach.«
»Wozu sollte sie?«
»Das habe ich mich damals auch gefragt. Wer weiß schon, warum wir lügen? Es gibt Hunderte Gründe, wichtige und unwichtige.«
»Wir reden später darüber«, sagte Jones, »wir vergeuden unsere Zeit. Wenn die Kids bei dem Wetter hier draußen sind, müssen wir uns beeilen.«
Jones lief schneller, so als habe er plötzlich ein Ziel.
»Wohin gehen wir?«
»Zum Bach.«
»Zum Black River?«, rief Henry, obwohl kein anderes Gewässer in Frage kam. »Warum?«
»Frag nicht«, sagte Jones, »sondern leg einen Schritt zu.«
Jones hatte das Gefühl zu träumen. Träumte er? Vor einem Jahr war er an einem Abend wie diesem im Wald gewesen. Damals hatte er versucht, seine Vergangenheit zu vergraben, sein hässliches, über Jahrzehnte gehütetes Geheimnis zu schützen. Und heute folgte er einer Prophezeiung, an die er nicht einmal glaubte. Er spürte die fauligen, vom Regen glitschigen Blätter unter seinen Stiefelsohlen. Das Platschen der Regentropfen auf seiner Kapuze und das Rauschen des Black River umschlossen ihn wie ein Geräuschkokon. Obwohl Henry dicht hinter ihm war, fühlte Jones sich wie der einzige Mensch auf dem Planeten. Er hätte sich jederzeit umdrehen und die Aktion abbrechen können; er und Henry hätten die Polizei rufen können, denn das Wetter war rau und die Nacht zu dunkel. Die Jugendlichen konnten sonstwo sein. Niemand hätte ihnen einen Vorwurf gemacht. Aber Jones wollte nicht umkehren. Ironischerweise wäre er, hätte Eloise ihn nicht persönlich aufgesucht, nie darauf gekommen, das Flussufer abzusuchen.
Normalerweise war der Black River flach und ruhig. Laut Wettervorhersage war es jedoch möglich, dass der Wasserpegel einen knappen Meter angestiegen war. Der Black River floss durch eine von Gletschern geformte Klamm, an deren Böschung Hemlocktannen und Kiefern wuchsen. Das Flussbett war voller Findlinge. Das Wasser war selbst im Sommer eiskalt.
Als Jones den Abhang erreichte, sah er sofort das Hochwasser. Unten am Ufer tanzten die Lichtkegel zweier Taschenlampen wie zwei Glühwürmchen auf und ab. Der Trampelpfad, der normalerweise im Zickzack in die Schlucht hinunterführte, war vom Regen weggespült worden. Möglicherweise kämen sie schneller und sicherer hinunter, wenn sie den direkten Weg wählten.
Trotzdem wäre der Abstieg riskant. Jones dachte kurz daran, Henry zurückzuschicken und Hilfe anzufordern, aber dann ging er einfach weiter, suchte Halt an den glitschigen Baumstämmen, rutschte mehrfach aus. Er stieß sich das Knie an einem Felsen. Er konnte hören, dass es Henry nicht besser erging.
Von unten drangen panische Rufe herauf. Jones konnte nichts verstehen. Er formte die Hände zu einem Trichter und schrie, alle sollten bleiben, wo sie waren. Im selben Augenblick tänzelten die Lichtkegel flussabwärts. Die Jugendlichen rannten davon.
Das Ufer war verschwunden, und Jones musste sich durchs Gebüsch kämpfen, das normalerweise weit oberhalb des Wassers wuchs. In der Ferne sah er die Lichtpunkte zittern. Er und Henry nahmen die Verfolgung auf. Henry hatte Jones bald überholt, weil er leichter und fitter war. Jones keuchte vor Anstrengung und bekam zu spüren, dass der Arzt tatsächlich recht hatte, wenn er behauptete, dass Jones nicht in Form war. Wussten Sie, dass das Überleben in der Wildnis davon abhängen kann, wie lange man in der Lage ist, das eigene Körpergewicht zu halten? Wie viele Klimmzüge schaffen Sie? Drei. Jones schaffte drei Klimmzüge, nach einem leichten Mittagessen vielleicht vier.
Als sie fast aufgeschlossen hatten, erkannte er drei schmale Gestalten. Henry brüllte etwas. Jones verstand kein Wort, und der nächste Moment fühlte sich an wie eine Erinnerung, wie etwas hundertmal Durchlebtes. Der Ablauf war immer gleich, egal, was Jones unternahm. Ihm kam in den Sinn, dass das Leben vielleicht genau darauf hinauslief. Vielleicht erlebte man manche Situationen wieder und wieder, bis man endlich das Richtige tat – auch wenn in den wenigsten Fällen klar war, was das Richtige überhaupt war. Jones kam näher, er schrie, aber der Wind trug seine Stimme davon.
Hilflos musste er mit ansehen, wie die kleinste der Gestalten, die dicht am Wasser lief, den Halt verlor. Eine Sekunde lang hielt sie sich an einem dünnen Ast fest, der in ihrer Hand zerbrach. Die zwei Begleiter beugten sich mit ausgestreckten Armen hinunter, biegsam wie Schilf, aber schon fiel sie
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