Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
saugen sie einem die Energie aus. Geh hinaus in die Welt, Eloise, vergrabe dich nicht stellvertretend für sie.
Aber sie hatte nicht auf den Rat hören wollen. Sie bemitleidete Ray, der für die Arbeit alles aufgegeben hatte. Sie glaubte, dass sie alles verloren und nichts mehr zu geben hatte. Dabei hatte sie alles gegeben: sich selbst. Früher hatte sie gern im Garten gearbeitet, sie hatte ihre Hände im weichen Boden vergraben, Blumen gepflanzt und frisches Gemüse gezogen. Früher hatte sie gern gelesen und gestrickt. Fast alle Decken, Schals und Mützen waren selbst gemacht. Wann hatte sie zum letzten Mal etwas erschaffen ? Sie kochte nicht einmal mehr, ernährte sich stattdessen von Salat und Thunfisch aus der Dose.
Vor sich entdeckte sie eine lange, dunkle, von Schilf umhüllte Gestalt. Sie schwamm schneller, aber das Ding trieb davon, so als stoße sie es mit jeder Bewegung weiter von sich. Sie strengte sich an und bemerkte, dass sie gegen eine starke Strömung anschwamm. Auf einmal bekam sie keine Luft mehr, und ihr Brustkorb verengte sich schmerzlich.
Da konnte Eloise sie erkennen. Ein Mädchen, das lange Haar umspielte sein Gesicht. Eine Meerjungfrau mit fast transparenter Haut und weit ausgebreiteten Armen, die an Flügel erinnerten. Ein Mädchen, so jung und hübsch wie ihre Tochter. Sie war vollkommen reglos, hielt die Augen geschlossen. Ihr Mund war leicht geöffnet.
Ein Mädchen. Da war wieder die Stimme in ihrem Kopf. Deswegen. Er kann nicht anders, als sie zu retten.
Auf einmal spürte Eloise echte Angst. Aus irgendeinem Grund mochte sie Jones Cooper. Wird es ihn umbringen?, lautete Eloises stumme Frage. Sonst hatte sie immer nur Fragen an die Toten gestellt, die ihr erschienen waren. An die Stimme in ihrem Kopf hatte sie sich nie gewandt, und nun wusste sie auch, warum. Sie würde keine Antwort bekommen. Niemals.
Eloise wachte schweißgebadet auf. Sie lag in der leeren Badewanne. Sie wusste nicht, wie sie dort hineingekommen war, sie erinnerte sich nur noch daran, wie sie sich von Ray verabschiedet hatte.
Sie kletterte aus der Wanne und ging hinunter, holte ihren Regenmantel aus dem Schrank und nahm ihre Handtasche vom Flurtisch. Dann lief sie in den Regen hinaus.
DREIUNDDREISSIG
B ethany fühlte sich taub, nur dass sich unter der Taubheit eine dröhnende Panik verbarg. Es war, als hätte sie einen Sirenengesang im Hinterkopf. Sie verstand nicht, warum Willow sie bestrafte. Sie liebte ihr Kind unendlich. Ja, sie hatte Fehler gemacht. Richard rief pausenlos an, obwohl sie ihn gebeten hatte, es zu lassen. Sie hatte ihn informiert, nur für den Fall, dass Willow sich auf den Weg zu ihm gemacht hatte. Warum schaffst du es nicht, auf sie aufzupassen?, hatte er gefragt. Das war lächerlich und gemein. Wie hatte sie nur einen Mann heiraten können, der so einen Unsinn von sich gab? Sie hatte einfach aufgelegt.
»Alles wird gut«, sagte Henry, »wir werden sie finden.«
Der BMW stand mit eingeschalteter Beleuchtung am Straßenrand. Für eine Sekunde glaubte Bethany, die Jugendlichen im Auto sitzen zu sehen, und sie wäre vor Erleichterung fast ohnmächtig geworden. Aber sie hatte sich geirrt. Henry parkte den Wagen, sie stiegen aus und riefen ihren Namen.
»Willow!« Bethanys Stimme überschlug sich. Sie musste weinen. Sie erinnerte sich noch wie gestern an jene Nacht in New York, als sie Willows Lieblingsplätze abgesucht. Damals hatte sie vor Angst fast die Nerven verloren, aber jetzt war alles noch viel schlimmer. Willow war im feuchten, finsteren Wald verschwunden, wo der Regen Bethanys Stimme übertönte und die undurchdringliche Dunkelheit das Licht von Henrys Taschenlampe schluckte.
Sie machte sich keine Vorwürfe, dass sie Henry zum Essen eingeladen und Willow nicht rechtzeitig informiert hatte. Ihr Fehler war, dass Willow tatsächlich glaubte, sich so benehmen zu dürfen, sie zu beleidigen und dann einfach abhauen zu können. Bethany war zu weich und nachsichtig gewesen, sie hatte sich selbst die Schuld an Willows Unglück gegeben. Das würde sich in Zukunft ändern.
Sie merkte erst, wie heftig sie schluchzte, als sie Henrys Umarmung spürte. Sie waren beide nass bis auf die Haut. Der Wind blies immer stärker. Bethany lehnte sich an Henry, sie war dankbar, jetzt nicht allein zu sein.
»Ja, wir werden sie finden«, sagte sie. Sie wollte ihm glauben.
Als sie Scheinwerferlicht sahen, liefen sie an die Straße zurück. Das Auto hielt an, und Bethany erkannte Jones Cooper hinter dem
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