Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
es funktioniert. Und du weißt es genauso wenig.«
»Tja«, sagte sie und hob resignierend beide Hände. »Wir wissen beide, dass Druck und Nörgelei nichts bringen.«
Mit einem Grunzen betätigte er den Schalter der alten Kaffeemaschine.
»Eloise, es wird Zeit für eine neue Kaffeemaschine.«
»Die alte funktioniert«, antwortete sie, »warum sollte ich sie ausrangieren?« Die Kaffeemaschine gluckste zustimmend.
»Weil dein Kaffee nach Motoröl schmeckt.«
»Bei dieser Gelegenheit möchte ich dich daran erinnern, dass ich dich nicht zum Kaffee eingeladen habe.«
Er setzte sich zu ihr an den Tisch, wobei der Küchenstuhl unter seinem Gewicht ächzte. Er zog eine Blechdose mit Pfefferminzbonbons aus der Tasche, warf sich eines in den Mund und schüttelte die Dose in Eloises Richtung. Sie lehnte mit einer Geste ab.
»Kommt mir vor, als wäre es vor hundert Jahren 1987 gewesen«, sagte sie.
»Unser Klient sieht das anders. Für ihn war es gestern.«
Ray stützte den Kopf in die Hände und sah sie stirnrunzelnd an. Er fand sie abweisend und unkonzentriert. Nein, das traf es nicht. Er stand auf, rumpelte kurz in der Küche herum und kam mit zwei vollen Kaffeebechern an den Tisch zurück.
Der Kaffee schmeckte scheußlich – bitter und säuerlich. Der Geruch erinnerte Eloise daran, dass sie seit Ewigkeiten keinen Appetit mehr auf irgendetwas verspürt hatte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal richtig hungrig gewesen war.
»Früher war es dir wichtig«, sagte er, stellte die Becher ab und ließ sich auf den Stuhl sinken.
»Das ist es immer noch!«
Sie wollte ihm den Unterschied zwischen Apathie und Akzeptanz erklären. Anders als die meisten Menschen bildete sie sich nicht mehr ein, die Kontrolle zu haben. Sie hatte vollkommen losgelassen. Und so hatte sie zwar keinen Frieden, aber immerhin eine Art innere Ruhe gefunden. Menschen, die immer noch einem falschen Bild vom Leben und von Beziehungen nachhingen, mochte ihre Haltung gleichgültig und beschränkt erscheinen. Aber diese Menschen litten noch. Eloise litt nicht mehr.
»Ich kann dir nichts sagen, Ray.« Sie schaute in die Tasse ihres zweiten Kaffees an diesem Tag, den sie ebenso wenig wie den ersten austrinken würde.
»Du gibst dir keine Mühe«, sagte er. »Du denkst nur noch an Jones Cooper.«
»Ich habe ihn heute besucht.«
Ray zog die Augenbrauen hoch.
»Tatsächlich? Hast du es ihm gesagt?«
Sie schilderte ihm die Begegnung.
Ray schüttelte den Kopf. »Der Typ lässt sich nicht in die Karten schauen.«
»Ja und nein.«
»Tja, dann … wenn es unbedingt sein musste. Vielleicht war es ein Befreiungsschlag.«
»Das hoffe ich. Du bist nicht der Einzige, der etwas von mir will.« Sie starrte, ohne es zu merken, auf die Katzenklappe, so als könnte sie Oliver mit reiner Gedankenkraft dazu bewegen, sich hindurchzuzwängen und miauend um Essen zu betteln. Die Sonne sank. Wo blieb der dumme Kater nur?
Sie sah Ray an. Er wirkte zerknirscht.
»Eloise, es tut mir leid.«
»Ich weiß, Ray.«
Er streckte den Arm aus und berührte ihre Hand. Und im selben Moment sah sie es: ein zuckendes Licht, eine panische Flucht durch vermodertes Laub, einen Sturz, den Nachthimmel über den Baumkronen. Und dann war da nur noch die verblichene Küchentapete und Rays entgeistertes Gesicht.
»Was ist? Was hast du gesehen?«, fragte er. Seine Neugier ermüdete sie.
»Jemand ist weggelaufen …« Mehr brachte sie nicht heraus. Das Bild war unscharf.
»Wo?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste immer noch.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber das ist ein gutes Zeichen, oder? Es bedeutet, dass du wieder Signale empfängst.«
»Kann sein.«
Durch seine Berührung war sie zu einer Sehenden geworden. Davor hatte sie immer nur Bildfetzen empfangen – Träume, Visionen, Bewusstseinstrübungen, und auch das nicht von Geburt an. Sie stammte nicht von Hexen und Hellsehern ab. Sie hatte keine Familie mit vielen Schwestern, Tanten und Müttern, die lila Zaubertränke anrührten und Liebeszauberpulver mischten.
Nein, bei ihr war ein Unfall der Auslöser gewesen. Ein schrecklicher Autounfall, der ihr Mann und Kind genommen hatte. Sie hatte fünf Wochen lang im Koma gelegen. Und übrig blieb nur … was eigentlich? An schlechten Tagen – und von denen gab es wirklich viele – war es wie ein Fluch. An guten Tagen war es eine Gabe. Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, den Verstand zu verlieren. Aber dann war sie Ray begegnet.
»Hast du dich schon mal gefragt, ob
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