Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
gesehen hatte, verstörte sie zutiefst. Sie war nur zu cool, um es zuzugeben.
Bethany gab sich selbst die Schuld daran, dass Willow keine Skrupel hatte, sich gegen ihre Mutter aufzulehnen. Bethanys eigene Mutter hätte noch gesagt: Wage es nicht, mir zu widersprechen. Beweg deinen Hintern und steig aus. Und Bethany hätte gehorcht, denn so gehörte es sich.
Sie ging anders mit ihrer Tochter um, und auch ihre Freundinnen hätten niemals in diesem Ton mit ihren Kindern gesprochen. Heutzutage drehte sich alles um Kommunikation und Kompromissfindung, solange es nicht um lebenswichtige Fragen ging. Zum Beispiel, ob man lieber im Auto warten wollte.
Sie und Willow standen sich nah, zu nah vielleicht. Aber so kam es manchmal, wenn man ein Einzelkind aufzog. Sie waren fast wie Schwestern, weil sie immer schon viel Zeit miteinander verbracht hatten und Bethany sich nie einem Geschwisterkind hatte zuwenden müssen. Bethany hatte es nichts ausgemacht, sich zu Willow auf den Teppich zu legen und zu malen oder zu kneten. Sie war keine strenge Mutter. Streng zu sein war die Aufgabe ihres Mannes gewesen, damals. Bethany hatte einfach keine Lust, sich über Kleinigkeiten aufzuregen.
»Bitte sehr«, antwortete sie. »Aber dann bleibst du unter allen Umständen hier sitzen, verstanden? Ich bin in zwei Minuten wieder da. Ich hole nur das Handy ab, das du verloren hast.«
Willow verdrehte die Augen und zuckte die Achseln, was so viel heißen sollte wie »Na und?«. Aber ihr zuckersüßes Lächeln verhinderte, dass sie dabei zu gemein aussah.
»Ich meine es ernst«, sagte Bethany, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.
»Hey, es ist kalt«, rief Willow, »lass den Motor laufen!«
»Ha«, sagte Bethany, »wirklich? Dir ist kalt? Dann komm mit rein.«
»Mom!«
Bethany schlug die Fahrertür zu, um Willows Tirade nicht hören zu müssen. Sie beugte sich vor und sah, wie Willow am ganzen Leib theatralisch bibberte. Bethany drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung. Natürlich ließ der Wagen sich von innen noch öffnen. Sie würde nur wenige Minuten brauchen. Sie drehte sich noch einmal zu Willow um, bevor sie den Coffeeshop betrat. Willow hatte ihr nachgesehen, schaute aber jetzt schnell zur Seite.
Als Bethany aus der feuchten Kälte ins warme Café trat, läutete eine kleine Türglocke. Es duftete nach Kaffeebohnen, das Licht war bernsteingelb und der Milchschäumer zischte. Bethany schaute sich um und bemerkte, dass sie gar nicht wusste, nach wem sie Ausschau halten sollte. Vor dem Kamin saßen ein paar junge Mädchen und kicherten, während Schulbücher und Notizblöcke ungeöffnet auf dem niedrigen Tisch vor ihnen lagen. Eine junge Mutter fütterte ihr Kleinkind mit Joghurt. Willow hatte den Mann aus dem Wald als groß ( ein Riese!) und schwarzhaarig beschrieben ( wie Graf Dracula!). In einer Ecke des Coffeeshops saß ein junger Mann in ein Buch vertieft. Er hatte tatsächlich schwarzes, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenes Haar. Aber mit der Nickelbrille und dem Stift in der Hand wirkte er alles andere als bedrohlich.
»Hey, Beth«, sagte der Mann am Tresen. Wie hieß er gleich? Todd. Ja, das war’s. »Was macht die Dichtung?«
»Gut. Danke der Nachfrage«, sagte sie und trat näher.
»Das Übliche?«, fragte Todd. Ein bisschen störte sie das an The Hollows. Sie und Willow wohnten erst seit einem halben Jahr hier, und trotzdem schien jeder ihren Namen, ihren Beruf und ihre Gewohnheiten zu kennen. Willow hatte geseufzt. Die schauen sich deinen Blog und deine Homepage an, Mom. Was denn sonst? Bethanys Staunen war natürlich naiv. Sie war die Anonymität von New York City gewohnt, wo die Angestellten der Coffeeshops ihre Gäste nicht kannten und sich darüber hinaus nicht für deren Leben interessierten. In der Kleinstadt beobachteten die Leute sich gegenseitig. War das gestört oder normal? Fand sie es gut oder schlecht, von den Leuten erkannt zu werden? Sie hatte sich noch keine abschließende Meinung gebildet.
»Klar, gern«, sagte sie. In Todds Augen war das Übliche ein doppelter Espresso mit einem Schuss Milch, die dem Kaffee die Säure nahm. Anscheinend war das im Moment tatsächlich ihr Lieblingsgetränk.
»Bethany Graves?«
Der Mann mit der Nickelbrille stand neben ihr. Willow hatte recht, er war wirklich riesig, fast einen Meter neunzig groß. Mehr noch, er wirkte ausgesprochen kräftig mit seinen breiten Schultern und den dicken Oberarmen. Auf seiner großen, ausgestreckten Handfläche
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