Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
rasieren, eincremen, Sport treiben. Oft folgte er ihr auf dem Fahrrad, wenn sie durch die Straßen joggte.
»Ich bin fürs Faulenzen geschaffen, nicht fürs Schwitzen«, hatte sie gekeucht.
»Komm schon, Mom, einen Kilometer noch. Du schaffst das!«
Als Kind hatte er seinen Vater natürlich auch geliebt. Aber seine Mutter war diejenige, die die Sterne am Himmel zum Leuchten brachte.
»Sie haben damals bei der Polizei ausgesagt, Sie hätten gesehen, wie sie das Haus verließ«, beharrte Michael, »und dass sie in eine schwarze Limousine gestiegen sei, die vor dem Haus stand. Dass ein Fremder auf sie gewartet und sie mitgenommen hat. Sie haben ausgesagt, sie hätte einen Koffer dabeigehabt.«
Sie hielt inne, nickte langsam.
»Wenn ich der Polizei das gesagt habe, wird es genau so gewesen sein.« Michael sah ihre rechte Hand zittern.
»Können Sie sich an noch etwas erinnern?«
»Sie haben immerzu gestritten«, sagte sie, »aus eurem Haus kam ständig Geschrei. Das hat mich verrückt gemacht.«
Das stimmte. Er hatte sich damals oft unter der Bettdecke versteckt und darauf gewartet, dass seine Mutter schluchzend die Treppe heraufkam und sich im Schlafzimmer einschloss. Es war die Schlussglocke, der Kampf war vorbei, und wieder einmal hatte sie verloren. Ihr Mann lief ihr nie hinterher. Nie hörte Michael sie versöhnlich tuscheln. Falls sie sich je vertrugen, bekam es niemand mit.
»Konnten Sie sehen, wer am Steuer saß?«
»Das ist so lange her, Michael«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin eine alte Frau. Wie sollte ich mich daran erinnern?«
Dabei erinnerte sie sich sehr wohl, das konnte er sehen. Sie mied seinen Blick und schielte zu ihrem Haus hinüber. Schließlich drehte sie sich um und verschwand mit raschen Schritten hinter der Hecke, die die Grundstücke trennte. Einmal hinter der Linie angekommen, rief sie: »Verkaufen Sie das Haus bloß nicht an irgendwelche zwielichtigen Typen. Denken Sie an unsere Wohngegend.«
Er wusste, er sollte ihr nachlaufen und noch mehr Informationen aus ihr herausbekommen. Aber diese Aufgabe würde er Ray Muldune überlassen. Die Dienste des Privatdetektivs waren nicht gerade billig. Für heute hatte Michael genug Sozialkontakte gehabt – erst das Mädchen im Wald, dann die Mutter. Er fühlte sich erschöpft und leer, wie immer, wenn er sich zu lange über Tage aufhielt.
In der Unterwelt war Michael viel glücklicher. Die von der Sonne beleuchtete Erdoberfläche, auf der sich das normale Leben abspielte – die machte ihm Angst, sie war für ihn ein Ort, an dem sich Monster und Albträume tummelten. Die moderne Welt und die Menschen, die sie bevölkerten, machten ihm Angst. Die Leute um ihn herum, seine Freunde und Bekannten, wenn er sie so nennen durfte, wurden von Motiven geleitet, die er nicht verstand. Sie sagten das eine und dachten das andere, und sie setzten ein Lächeln auf, das niemals die Augen zu erreichen schien. Die Leute, die er nicht persönlich kannte, sondern nur beobachtete, schienen süchtig nach Stress zu sein. Sie stürzten sich auf eine Aufgabe und waren in Gedanken ganz woanders – beim Einkaufen telefonierten sie, beim Autofahren schrieben sie SMS. Multitasking nannte man das heute. Seit wann galt es als Auszeichnung, überfordert zu sein und zu viel zu tun zu haben?
Die Welt war in einen ängstlichen Laufschritt verfallen, und Michael kam nicht mehr mit. Oft war er verwirrt und hatte das vage Gefühl, mit ihm stimme etwas grundsätzlich nicht. Er wollte stehen bleiben, um den Himmel und die Bäume zu betrachten; er wollte sich mit anderen Menschen austauschen. Aber alle schienen ihn zu überholen, ihm auszuweichen. Auf dem Superhighway des Lebens war er das Hindernis – an guten Tagen. An schlechten Tagen fürchtete er, fremde Leute könnten jeden Augenblick loskreischen und mit dem Finger auf ihn zeigen, um ihn als Außenseiter bloßzustellen. Manchmal bekam er vor lauter Nervosität Schweißausbrüche, selbst in banalen Situationen, an der Mautstation oder in der Schlange vor der Supermarktkasse.
Unter Tage hingegen erwartete ihn eine andere Welt. In der tropfnassen Dunkelheit der Minen fand er Einsamkeit und Stille. Hier konnte er sich entspannen, sich ausdehnen, ganz er selbst sein. In der einzigartigen, lebendigen Dunkelheit erwachten seine Sinne zum Leben.
Er hörte, wie Claudia ihre Haustür schloss, und wandte sich wieder zum Haus seines Vaters um. Er zögerte ein letztes Mal, als er an das Hotel dachte, aber
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