Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
für den ominösen Minenschacht, in dem angeblich ein Leichnam lag. Mack hatte ihm die Geschichte erzählt; angeblich war der alte Mann im Zuge seiner Recherchen auf diese Legende gestoßen. In den Büchern, die sich mit der Industriegeschichte der Gegend befassten, hatte Michael keine Hinweise auf die Sage finden können. Den Berechnungen seines Vaters zufolge musste der Schacht jedoch ungefähr dort sein, wo Michael heute gegraben hatte. Er wusste, dass sein Vater einmal einen Artikel über die legendäre Mine veröffentlicht hatte, aber er hatte ihn in den Papierbergen in Macks Arbeitszimmer nicht finden können.
Sein Vater war Geologieprofessor gewesen und hatte eine Vorliebe für die Geschichte des örtlichen Bergbaus gehabt. Er hatte jenen Teil der Lokalgeschichte dokumentieren wollen und ausführliche Interviews mit den älteren Bewohnern von The Hollows geführt, unzählige Fotos geschossen und sämtliche Unterlagen zusammengetragen, die sich auftreiben ließen. Er schrieb Artikel für Geschichtsmagazine und träumte davon, eines Tages ein Buch zu veröffentlichen. Aber das Thema war nicht gerade sexy. Mack konnte keinen Verlag finden, und irgendwann interessierte sich niemand mehr für seine Artikel. Er schrieb trotzdem immer weiter.
Michael war sich sicher, dass er nur die Werbeprospekte, Wurfsendungen, Kataloge und die endlosen Rechnungen beseitigen musste, die im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Schutzwall um den Schreibtisch herumlagen, um jene Artikel zu finden. Früher hatte er sie gern gelesen. Sie mussten dort sein. Sein Vater hatte niemals irgendetwas weggeworfen.
Natürlich musste Michael sich zudem um den Nachlass kümmern. Ein Treffen mit dem Anwalt Hank Barrow stand an, einem alten Freund von Mack. Ihr letztes Telefonat war ziemlich unerfreulich gewesen.
»Ihr Vater war ein guter Mensch«, hatte Hank gesagt, »aber er war katastrophal schlecht organisiert. Ich werde kostenlos für Sie arbeiten, kann aber nicht garantieren, dass vom Erbe noch viel für Sie und Ihre Schwester übrig bleibt, nachdem wir die Arztrechnungen bezahlt haben.«
Trotzdem musste Michael eigentlich nicht zwingend vor Ort sein. Die Geschichte von dem Schacht kannte er seit Jahren, und die Erbschaftsangelegenheiten hätten sich auch aus der Ferne abwickeln lassen. Aber als seine Schwester ihm erzählte, dass sein Vater im Sterben liege und sie wegen ihrer beiden Kinder nicht willens oder in der Lage sei, die lange Reise anzutreten, hatte er das Gefühl, eine starke Kraft zöge ihn nach The Hollows zurück.
Beide Kinder hatten keinen Kontakt mehr zum Vater, aus unterschiedlichen Gründen. Michael wollte nicht nach Hause kommen, um sich zu entschuldigen oder seinen Frieden zu machen. Er war gekommen, um Fragen zu stellen, die er damals, nach dem Verschwinden seiner Mutter, nicht zu stellen gewagt hatte.
»Was ist mit ihr passiert, Dad?«, hatte er seinen sterbenden Vater im Krankenhaus gefragt.
Mack hatte ihn wie durch einen dichten Nebel angestarrt. Im Krankenzimmer war es dunkel, abgesehen von dem Licht, das aus dem Flur hereinfiel. Der Mann im Nachbarbett schnarchte. Michaels Vater lag auf der Palliativstation und wurde lediglich mit Schmerzmitteln behandelt. Sein Körper war so vom Krebs zerfressen, dass keine Aussicht auf Heilung mehr bestand.
»Du weißt es«, flüsterte er, »du weißt es.«
»Nein, ich weiß es nicht«, entgegnete Michael. »Sie ging eines Abends aus dem Haus, und wir hörten nie wieder von ihr. Kein Anruf, keine Postkarte. Dad, ich suche sie seit Jahren. Sie ist nicht durchgebrannt. Sie hat sich nie scheiden lassen, hat deinen Namen nie abgelegt. Sie hat nie wieder irgendwo gearbeitet. Cara sucht sie ebenfalls. Wir bezahlen jemanden dafür, nach ihr zu suchen.«
Er starrte seinem Vater ins Gesicht, war sich aber nicht sicher, ob der ihn überhaupt sah. Der Blick des alten Mannes war wässrig und verschwommen.
»Vielleicht hat sie dich nicht geliebt«, sagte Michael, »vielleicht wollte sie dich verlassen. Aber uns hat sie geliebt, Cara und mich. Sie hat uns geliebt.«
»Sie hat uns geliebt«, sagte sein Vater, aber es war nicht mehr als ein Echo, eine gedankenlose Wiederholung von Michaels Worten.
Michael wusste nicht mehr, wie lange er neben seinem Vater gesessen hatte, der so eingefallen und vertrocknet aussah wie ein welker Maiskolben. Wie lange hatte er dem rasselnden Atem des Vaters gelauscht? Michael döste im Sitzen ein, sah die Nachtschwester hereinhuschen. Sie warf ihm ein
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